1974 | Helmut Schmidt wurde neuer deutscher Bundeskanzler, „Derrick“ eroberte die Wohnzimmer, und in den Charts hörte man sagenhafte vier Wochen lang „Tränen lügen nicht“ von Michael Holm. Das Jahr war in vielerlei Hinsicht speziell, nicht zuletzt für Hannover, weil drei schrille Damen die Stadt spalteten – die Nanas von Niki de Saint Phalle.
Eine obszöne Geldverschwendung? Zunächst waren die drei Skulpturen am Leibnizufer den HannoveranerInnen ein echter Dorn im Auge, und es wurde leidenschaftlich gegen diese „Umweltverschmutzung“ angegangen. Es gab hitzige Proteste, eine Bürgerinitiative sammelte über 20.000 Unterschriften gegen „die Schnapsidee einer besoffenen Ratsherren-Stammtischrunde“ [Leserbrief der HAZ] und sogar der damalige Stadtimagepfleger, Mike Gehrke, stand sicherheitshalber tagelang unter Polizeischutz.
Aber von Anfang an: Am 14. Januar 1974 wurden die drei voluminösen Nanas der Künstlerin Niki de Saint Phalle, die ausgerechnet nach den feinen hannoverschen Damen Kurfürstin Sophie, Charlotte Buff und Caroline Herschel benannt wurden, am Leibnizufer aufgestellt. Statt im Stillen an der Leine zu verblassen, entfachten die drei eine Kontroverse. Vielleicht sogar gewollt? Die Künstlerin selbst schloss sich bereits Mitte der 60er Jahre unter dem Motto „Alle Macht den Nanas“ der aufkeimenden Frauenbewegung an. Der Begriff „Nana“ stammt aus dem Französischen und beschreibt die moderne, selbstbewusste und sogar verruchte Frau. Ihre Figuren stehen für freie Gestaltung ohne Hemmungen und Konventionen. Eine 1966 kreierte Nana sorgte mit ihren unglaublichen 29 Metern Länge bereits in Stockholm für reichlich Gesprächsstoff: Das Werk wurde durch die Vagina betreten, im Inneren der Figur befand sich in einer Brustseite eine Milchbar, in der anderen ein Planetarium. Zu viel für die damalige Gesellschaft? Zur Einordnung: Erst 1977, drei Jahre nachdem die Nanas in Hannover aufgestellt wurden, wurde die „Hausfrauenehe“ (die Ehefrau war wortwörtlich zur Haushaltsführung verpflichtet) abgeschafft.
Nach den anfänglichen Protesten folgte eine erste Diskussion über Kunst im öffentlichen Raum und anschließend eine intensive Auseinandersetzung über Kunst als eine Form der Alltagskultur. Conclusio: Die Nanas, die weiterhin lustvoll ihre Leibesfülle zur Schau tragen, wurden zum Grundstein der späteren Skulpturenmeile in Hannover.
Das umstrittenste Lieblingskunstwerk der Stadt
Einige beschreiben die drei bunten Polyester-Figuren noch heute halbironisch als idealtypische Straßenkunst, also Kunst, die jeder versteht. Manche finden sie zu viel, zu bunt, zu überdimensioniert. Andere haben mindestens drei Nanas als liebgewonnenen Staubfänger im Büro oder in der Wohnung ausgestellt (übrigens gibt es Dutzende zur Auswahl). Ob nun schön oder schrecklich – jeder hat unweigerlich eine Meinung zu der Kunst von Niki de Saint Phalle.
Kennt ihr den Mere-Exposure-Effekt? Dieser beschreibt einen Wahrnehmungsfehler: Wir bewerten Dinge positiver, je öfter wir sie sehen oder uns damit auseinandersetzen. Im Radio hören wir auch deswegen das immer gleiche Jingle und sehen dieselben Motive bei Werbekampagnen – mit der Zeit werden wir schon mögen, was wir hören und sehen.
Ob es nun an dem oben beschriebenen Effekt lag oder die intensive Beschäftigung mit der Kunst von Niki de Saint Phalle zu einem Umdenken führte, werden wir evidenzbasiert nach 50 Jahren nicht mehr ermitteln können. Was wir allerdings mit absoluter Genauigkeit behaupten dürfen: In den letzten 50 Jahren sind Sophie, Charlotte und Caroline untrennbar mit ihrer Heimatstadt verwachsen – ein echtes Happy End.
Die Stadt Hannover plant ein Jubiläumsfest am 8. und 9. März
Ein Grund zum Feiern! Die Stadt Hannover richtet am 8. März, dem Internationalen Frauentag, und am 9. März ein Geburtstagsfest für die drei Damen am Leibnizufer aus. Zeitgleich wird am 9. März der beliebte Altstadtflohmarkt an der Uferpromenade stattfinden. Lasst uns Charlotte, Sophie und Caroline feiern, die die HannoveranerInnen seit einem halben Jahrhundert in Staunen und Konfusion versetzen! Mögen sie noch viele Jahre das Hohe Ufer, als umstrittenstes Lieblingskunstwerk der Stadt bunter machen – oder zumindest ein beliebtes Fotomotiv für unsere Touristen bleiben.
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