Bei der Darts- Europameisterschaft der PDC, genannt European Darts Championship (EDC), treten die 32 besten Spieler der vorangegangenen European Darts Trophy (EDT) an. Göttingen war 2017 und 2018 bereits Gastgeber der EDT, aber in diesem Jahr wurde in der Lokhalle zum ersten Mal die Europameisterschaft ausgetragen. Freunde erzählten mir von der unglaublichen Stimmung, die sie in den Vorjahren in der ehemaligen Industriehalle erlebt hatten. Ich habe in meinem Leben noch keine fünfzig Dart-Pfeile geworfen, aber die überschwänglichen Schilderungen wecken meine Neugier. Als ich am Samstagnachmittag zufällig sieben, mit ballonseidenen Jogginganzügen, Vokuhila-Perücken, Sonnenbrillen und Rapper-Ketten kostümierte, Kumpels aus Mecklenburg-Vorpommern treffe, ist die Sache klar. Bei Flaschenbier und Pizza in der Göttinger City bitten sie um ein Foto und ich erfahre, dass die Jungs vom Dart nicht die blasseste Ahnung haben. Sie sind auf Party aus. Also mache ich mich am Abend, an dem die zweite Vorrunde ausgespielt wird, auf den Weg. „Game on“ zur Darts- Europameisterschaft!
Superhelden und Irokesen
Vor der Halle bekomme ich schon eine Ahnung dessen, was drinnen wohl abgeht. Hunderte von Fans stehen in einer langen Schlange vor dem Einlass. Die Hälfte von ihnen ist kostümiert, wie zu besten Karnevalszeiten im Rheinland. Chinesen in gelber Seide, Wikinger mit gehörnten Helmen und unzählige Irokesen mit knallbuntem Haarschopf. Eine Würdigung des derzeit wohl schillerndsten Dartspielers Peter „Snakebite“ Wright, der aber bereits ausgeschieden ist. Es gibt Schlümpfe und Superhelden, Mexikaner in Ponchos und Sombreros, Kapitäne und Astronauten. Pailletten-Krawatten, blinkende Hüte, Dartscheiben als Brillen oder Kopfschmuck und Haarreifen, die aussehen, als habe man einen Pfeil im Schädel stecken. Nahezu jeder in der Schlange hat bereits mindestens ein Vorglüh-Bier auf der Hand. Die Pfand-Sammler vor der Halle machen jedenfalls einen guten Umsatz. Oft bekommen sie die Flaschen direkt in die Hand gedrückt. Ein feiner Zug.
4.000 Menschen feiern Dart
Beim Einlass treffe ich auf eine Fussballtipp-Runde aus Wolfenbüttel. Die vier Männer tragen Dart-Scheiben um die Köpfe und sind extra für die EDC nach Göttingen gekommen. „Das ist eine Teilausschüttung unserer Kasse“, sagen sie lachend. Ich frage, ob sie neben Fußball- auch Dart-Experten sind. Anwort: „Nee, wir spielen nicht einmal“. In der Halle ist die Hölle los. Rund 4.000 Menschen sitzen an Bierzelt-Garnituren und feiern, was das Zeug hält. Dabei hat das erste Spiel, hier Leg genannt, noch nicht einmal begonnen. Von hinten ist die Wettkampf-Dartscheibe nur zu erahnen, aber auf zwei großen LED-Wänden, die von rund zwanzig Kameras mit Bildern versorgt werden, sind Spieler und Ergebnisse auch von hier gut zu erkennen. Ich komme zeitig genug, um den Einlauf, die Darter sagen „Walk-on“, der ersten beiden Spieler Vincent van der Voort „The Dutch Destroyer“ und Chris Dobey zu erleben. Dicht begleitet von Kameras und zwei hünenhaften Body-Guards klatschen sie ihre Fans rechts und links ab, schütteln Hände und verteilen auch hier und da ein Küsschen.
„One hundred and eighty“
Ein kurzes Händeschütteln der Gegner, ein Schulterklopfen, dann fliegen die Pfeile. Deren Einschlag auf der Scheibe ist dank eingebauter Mikrofone in der Halle deutlich zu vernehmen. Ich habe ja quasi keine Ahnung vom Dart und trotz meiner Unkenntnis packt mich diese fröhliche, überbordende Stimmung in der Halle. Die Dart-Freunde reagieren schnell auf besonders gute oder schlechte Würfe. Sie springen auf, wenn ihr Lieblingsspieler in Führung geht, grölen wie die Stiere und singen lustige Lieder. Manche stehen und tanzen auf den Bänken. Die anwesenden Securities sorgen dann allerdings dezent dafür, dass sie sich wieder setzen, um anderen nicht die Sicht zu verderben. Besonders gewaltig geht die Meute ab, wenn ein Spieler dreimal die Dreier-20 auf der Scheibe trifft. Parallel zum langgezogenen „One hundred and Eighty“ des Hallensprechers schnellen hunderte von Pappschildern, mit einer großen 180 darauf, in die Höhe. Die Rückseite ist weiß und von den meisten hier mit eigenen Botschaften beschriftet. „Phil Taylor for President“, „Elmar, Tisch 1: Platz 6 hat Durst“ oder „Ich muss mal Pipi“ steht darauf zu lesen.
Die Zapfer geben ihr Bestes
Nach einigen Legs verlassen die Spieler die Bühne. Ich frage einen Steward der PDC ziemlich dusselig und auf Englisch, ob es schon vorbei ist. „No, its just a commercial break“, bekommt der Neuling freundlich und nachsichtig zur Antwort – Werbepause für die Übertragung auf dem Bezahl-Kanal. Ich folge Hunderten auf dem Weg zum nächsten Bierstand und wähle den Außenbereich. Florentin aus Hamburg, der lange in Göttingen gewohnt hat, nimmt die Wartezeit gelassen. Offensichtlich hat er aber schon einige Bierchen intus, denn, eine von seinem Kumpel Johannes gereichte Zigarette drückt er aus, ohne sie überhaupt angezündet zu haben. Die Zapfer geben ihr Bestes, werden dem Ansturm aber nur mit Mühe Herr. Und, je länger es dauert, desto mehr Bier bestellen die Dart-Party-People auf einmal. Einer schleppt 24 mit dem Konterfei der Spieler versehene Kunststoffbecher in 4er-Trägern weg. Kostenpunkt mit Pfand, schlappe 168 Euro. Das wird sicher ein teures Wochenende, denke ich. Alexander, Hobby-Darter aus der Nähe von Wolfsburg, ist sauer. Ihm dauert das viel zulange. Gekleidet in einen quietschbunten Phantasie-Anzug, der schwer an die 70er-Jahre erinnert, hat er Sorge seinen Lieblingsspieler Stephen „The Bullet“ Bunting zu verpassen, der demnächst antritt. „Ich spiele sogar dieselben Pfeile, wie er“, sagt er mir stolz.
„Dart muss man gesehen haben“
Zurück in der Halle sind Bunting und sein Gegenspieler Michael Smith gerade beim „Walk on“. Das anschließende Leg wird Alexander aber keine große Freude bereitet haben. Nach einem durchaus spannenden Match scheidet Bunting mit 10:7 gegen den „Bully Boy“ aus. Martina und Jürgen sitzen an einem der vorderen Tische und schauen dem Treiben auf der Bühne gebannt zu. Einmal pro Jahr gehen sie auf ein großes Dart-Event, seit sie es vor ein paar Jahren im englischen Fernsehen zum ersten Mal gesehen haben. „Wir haben Tickets für den Sonnabendabend und für Sonntagnachmittag“, berichten sie. „Am Montag haben wir auch noch frei, dann wollen wir uns Göttingen anschauen“. Der letzte Satz freut mich besonders. Gegenüber sitzen Marcel, Mike und Christopher aus dem Ostharz. Das Thüringer Trio ist etwas traurig, dass ihr Lieblingsspieler Peter Wright, der mit dem bunten Irokesen-Schnitt, nicht mehr dabei ist. Trotzdem fiebern und feiern sie mit. Sie sind bereits zum vierten Mal auf einer Darts-Großveranstaltung, denn „das muss man einfach gesehen haben.“
Blinkendes Dart-Merchandising
Während „You shook me all night long“ von AC/DC aus den Hallen-Lautsprecher tönt, spricht mich ein „Mexikaner“ auf Englisch an, ob ich ihm sagen kann, wie die Punkteregelung funktioniert. Als ich verrate, dass ich absolut keine Ahnung habe, lacht er laut auf, gibt mir High Five und ruft „me too.“ Ich schaue mir den riesigen Merchandise-Stand in der Halle an. Hier gibt es so ziemlich alles, was mit dem Dart-Sport zu tun hat, käuflich zu erwerben. Fan-Trikots und -Schals, Dart-Pfeile und Zubehör unterschiedlichster Preisklassen, Cases, Pins, Autogrammkarten und allerlei bunten oder blinkenden Verkleidungskram wie Hüte, Krawatten, Masken und Sonnenbrillen. Inzwischen spielt Gerwyn „The Iceman“ Price gegen Nathan „The Asp“ Aspinell. Eine absolut packende Begegnung, die auch mich Dart-Null nicht kalt lässt. Price gleicht in einem nervenaufreibenden Parforce-Ritt einen 0:5 Rückstand in der ersten Session bei der nächsten zum 5:5 aus, bevor er mit 10:6 nach der dritten Session ins Viertelfinale einzieht. Das reißt seine Fans, die unter anderem als Panzerknacker verkleidet sind, mit tosendem Gebrüll und hochgereckten Armen von ihren Bierbänken.
120.000 Pfund für Rob Cross
Für mich ist es heute erst einmal gut und ich verlasse vor dem letzten Match die Halle, um noch fix eine Bratwurst zu essen. Die mir von Freunden empfohlenen Ohrstöpsel kann ich jetzt ja herausnehmen. Einigen anderen Darts-Partygängern reicht es auch schon, allerdings aus anderen Gründen. Captain America und seine kostümierten Avenger-Gefährten stehen nämlich nicht mehr so sicher auf den Beinen, als könnten sie heute noch die Erde retten. Auch die jamaikanische Bob-Mannschaft zerlegt im feucht-fröhlichen Zustand der Gnade vor der Halle gerade ihren Papp-Schlitten. Eigentlich wollte ich es bei dem Samstagabend für einen ersten Eindruck bewenden lassen, aber nun möchte ich unbedingt auch sehen, wer das Turnier gewinnt. Das steht am darauffolgenden Sonntagabend um 22.30 Uhr fest.
Rob „Voltage“ Cross holt mit 11:6 gegen den „Iceman“ seinen dritten großen Titel. Cross gewinnt ein Preisgeld von 120.000 Pfund und ich treffe noch Göttingens Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler, der dem Gewinner den riesigen Silberpokal überreichen darf. Ich persönlich habe gestern und heute einiges über den Dart-Sport gelernt, würde mir das Ganze aber lieber in einem kleineren Rahmen ansehen. Für Menschen, die wilde Sportpartys in großer Gemeinschaft lieben, ist so ein Event, vor allem, weil es zwar laut, aber friedlich abläuft, genau das Richtige. „Leider steht Göttingen bislang nicht auf dem Tourplan der EDC im kommenden Jahr“, sagt mir Lokhallen-Manager Kai Ahlborn beim Verabschieden. Schade.
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