Hildesheim blickt auf eine mehr als 1200 Jahre alte Stadtgeschichte zurück. Und ist man – vor allem am Abend – in der Stadt unterwegs, so kann es passieren, dass die Vergangenheit wieder lebendig wird. Wenn Ihr in Hildesheims Gassen auf die Kräuterfrau Geseke, die Frau des Münzmeisters Auguste Dys, den Abt Theoderich, die Gräfin Schonetta oder Nachtwächter Christian trefft, dann findet wieder eine Kostümführung statt.
All diese historischen Figuren werden von Hildesheimer Guides dargestellt, die in historisch inspirierten Gewändern durch aufregende Epochen der Geschichte führen. Sie erzählen von rüden Sitten und seltsamen Gebräuchen ihrer Zeit, von Licht- und Schattenseiten. Bei Führungen wie „Brennen soll die Hexe“ oder „Starke Weiber – von wegen schwaches Geschlecht“ kann den Besuchenden schon mal der Atem stocken.
Ich darf mich heute mit Auguste Dys auf die Reise ins längst vergangene Hildesheim machen. Die „Villa Dyes“ am Hildesheimer Weinberg wurde im 19. Jahrhundert gebaut. 1803 wurde es dem Hildesheimer Kaufmann und Bankier Gerhard Gottfried Dyes in Erbpacht überlassen. Doch die Geschichte von Auguste Dys führt uns noch weiter in die Vergangenheit und damit ins Hildesheim des 17. Jahrhunderts.
Der Pest-Arzt in der Alten Münze
Seit 1603 ist Augustes Eheherr, Christoph Dys der Jüngere, der Münzmeister der Stadt. Mit ihren Gesellen und Lehrjungen wohnen sie in der Alten Münze – einem Steinhaus unterhalb der St.-Andreas-Kirche. Heute denkt man bei der „Alten Münze“ in Hildesheim an ein italienisches Restaurant. Doch das gotische Bruchsteingebäude wurde 1530 als „Städtische Münze“ erbaut. 1772 fand hier die letzte Prägung statt. Auguste Dys erzählt mir stolz von ihrem ehrlichen Ehemann, der wegen der Qualität seiner Arbeit einen guten Ruf genoss. Sie berichtet mir, dass sie ihm regelmäßig über die Schulter schaute und daher auch weiß, wie man Münzen schlägt und prägt.
Ich erfahre, dass sie zu schlimmen Zeiten in Hildesheim lebte: Europa wurde vom 14. bis zum 17. Jahrhundert von mehreren Pestwellen heimgesucht. Die hat auch die Frau des Münzmeisters miterlebt. In den Dachkammern ihres Hauses hat das Ehepaar nicht nur einige Lehrjungen, sondern auch den Pest-Arzt einquartiert. Denn der Rat der Stadt musste Geld sparen. Auguste Dys war mit dieser Lage gar nicht zufrieden, denn die gruselige Gestalt begegnete ihr oft im Treppenhaus. Auch die Lehrjungen schimpften, weil sie jetzt mit dem Altgesellen in einem Zimmer schlafen mussten. Und der schnarchte so furchtbar.
Hildesheim im 17. Jahrhundert
Damit ich mich noch besser in das längst vergangene Hildesheim hineinversetzen kann, nimmt Auguste mich mit auf die Reise. „Wir hatten etwa 5.000 Einwohner in Hildesheim. Bei Häusern, die einen Garten haben, baute man einen Abtritt im Garten, um das Geschäft zu erledigen“, erzählt mir Auguste Dys. Zu Anfang war der Zusammenhang zwischen gutem Wasser und Krankheiten noch nicht erforscht. Doch Hildesheim wuchs schnell und mehr Menschen kamen in die Stadt. „Da spielte es dann schon eine Rolle, ob ein Brunnen an Orten stand, wo das gute Wasser herkam und ob 20 Meter weiter ein Abtritt war“, ergänzt sie.
Hildesheim hatte zu Augustes Zeit 44 Kirchen – um jede war ein Kirchhof gebaut. Augustes Haus – die Alte Münze – lag am Andreasplatz. Dort lag auch der Andreaskirchhof mit unzähligen Gräbern. „Der zweite Hildesheimer Marktplatz lag vor der Andreaskirche. Weil der Markt immer größer wurde, passierte es auch schon einmal, dass so eine Bude auf ein Grab gestellt wurde. Das sah die Kirche natürlich nicht gern und schimpfte. Als schließlich auch noch der dritte Marktplatz eröffnet wurde war das Marktgeschehen in Hildesheim richtig angekommen“, berichtet Auguste Dys. Mit sogenannten „Piepen“ – sehr langen ausgehöhlten Pappelstämmen – konnte man gutes Wasser von der Sültequelle in den Marktbrunnen holen. Es war ein großer Unterschied, ob man einen herkömmlichen Brunnen oder gutes Quellwasser hatte. Das merkte man nicht nur am Geschmack, sondern auch daran, dass weniger Menschen in unmittelbarer Nähe erkrankten.
Zum Baden ging es in die Badestube
Auguste Dys war eine sehr umtriebige Frau, sie wusste und hörte viel. So war sie auch sehr neugierig, wenn ihr Christoph vom Rathaus kam und berichtete, was der Rat neu beschlossen hatte. Und auch aus der Badestube kann sie mir berichten: „Morgens gingen die Ratsherren zum Baden, da wurden noch Blüten ausgestreut. Im Laufe des Tages wurde zwar mal Wasser nachgegossen, aber letztendlich kamen abends die Familien, die es ausbaden mussten“.
Auch Münzmeister Christoph Dys ging gerne in die Badestube. Auguste erzählt mir, dass der Bäder nicht allzu viel Geld verdiente, doch durch seinen Vetter aus Köln hatte er eine neue Erwerbstätigkeit aufgetan: So wurde in der Badestube ein Laken gespannt, in dem sich zwei Schlitze befinden. Auf diese Weise konnten eifersüchtige Ehefrauen und neugierige Nachbarn ganz einfach in die Badestube gehen und mussten dafür nur ihren „Spannerpfennig“ zahlen. „Ich beobachtete auch regelmäßig wie die Rote Lina, die Bademagd, den Christoph verwöhnte. Er dachte, er wäre der Einzige, doch das machte sie genauso bei dem Bürgermeister“, lacht Auguste.
Auguste Dys wäre gern Patrizierfrau
Auguste Dys war zwar eine Frau eines angesehenen Handwerkers – der Münzmeister war schon etwas Besonderes. Doch trotzdem beklagte sie sich oft, dass sie keine Patrizierfrau war. Das schlug sich zum Beispiel in der Kleiderordnung nieder: Sie durfte kein Samt, keine Seide und keine Perlen tragen. Nur einfache Farben und beispielsweise Bernstein waren ihr erlaubt. „Sogar eine Verordnung vom Rat der Stadt gab es, wie viele Unterröcke eine Frau tragen durfte. Wenn der Bürgermeister jetzt gekommen wäre und mir unter den Rock geguckt hätte, dem hätte ich was erzählt!“, beschwert sie sich. Mit der Verordnung wollte man der Putz- und Prunksucht Einhalt gebieten und man sollte dem Stand gemäß gekleidet sein.
Und auch neben der Kleiderordnung gab es viele andere Regeln, die es zu beachten galt. Nach Einbruch der Dunkelheit war der Nachtwächter in Hildesheim unterwegs und schaute, ob in den Häusern noch Feuer brannte. Denn ein Funken könnte ins Dachgebälk fliegen und ein Feuer wäre in einer Fachwerkstadt eine Katastrophe gewesen. Deshalb war die Alte Münze auch aus Stein. Hier konnte Metall flüssiggemacht werden, ohne dass etwas Schlimmes passierte. Auch sollte man niemals ohne Laterne im Dunkeln unterwegs sein, denn sonst galt man als „Lichtscheue Gestalt“.
Die Frau hinter Auguste Dys
Mit den Hildesheimer Kostümführern können Teilnehmende in längst vergangene Zeiten eintauchen und viel Wissenswertes erfahren. Die Frau des Münzmeisters wird von Ute Albrecht verkörpert. 2018 hat sie ihre Stadtführerausbildung abgeschlossen und kommt aus einem ähnlichen Berufsgebiet wie Auguste Dys. „Ich war selbst Bänkerin und wollte mir anschließend ein neues Hobby suchen“, erzählt sie. Neben Auguste Dys spielt die Kostümführerin auch andere Figuren wie zum Beispiel Elfriede Graf oder Elisabeth von Rantzau.
Damit die eineinhalbstündigen Führungen so authentisch wie möglich sind, ist viel Vorbereitung notwendig. So wird zum Beispiel in der Hildesheimer Sagengeschichte recherchiert und es werden auch Fortbildungen in anderen Städten absolviert. „Es geht dabei nicht nur um die Inhalte, sondern auch um die Methodik. Unter den Kostümführern besteht ein regelmäßiger Austausch und es vergeht keine Woche, in der nicht jemand wieder etwas Neues rausfindet“, berichtet Ute Albrecht. Auch Interaktionen zwischen den Figuren sind für die Gäste immer wieder spannend. Daran wollen die Kostümführer dieses Jahr vermehrt arbeiten. Eine echte Herausforderung: Denn die Figuren kommen aus verschiedenen Jahrhunderten.
Die nächste öffentliche Führung der Hildesheimer Kostümführer findet am 1. März zum Thema „Prosit, auf euer Wohl“ statt. Dann allerdings ohne Auguste Dys. Die Frau des Münzmeisters wird voraussichtlich wieder im August zum Thema „Starke Weiber – von wegen schwaches Geschlecht“ zu sehen sein. Weitere Infos gibt es unter: www.hi-kostuem.de
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