Um Wolfenbüttel kennenzulernen habe ich* mich aus Liebhaberei für die Jägermeistertour am Montagmorgen entschieden. Da ich etwas zu früh dran bin setze ich mich auf einen Milchkaffee ins Café am Stadtmarkt. Montagsmorgens um halb zehn ist es hier bereits voll. Die ältere Generation Wolfenbüttels scheint sich hier zu treffen und der Chef persönlich geht von Tisch zu Tisch und begrüßt seine Gäste. Der Milchkaffee hat wie gewünscht besonders viel Schaum und der Blick über den Marktplatz auf Augusts Standbild vertreibt die Zeit schnell.
Start mit ganz viel Jägermeister(geschichten)
Punkt 10:30 treffen wir uns vor der Touristinfo. Gut 25 Teilnehmer zählt unsere Gruppe. Die Altersspanne reicht vom Leipziger Pärchen in den Mittzwanzigern bis zu Opa Gloeckler, der mit seinen 80 Jahren und seinem Spazierstock tapfer mithalten wird. Unsere Stadtführerin Frau Bethmann streift jedem eine orange Jägermeister-Girlande um, so kann sie die Gruppe besser zusammenhalten.
Es geht gleich mit ganz viel Jägermeistergeschichte los. Hinter einem kleinen Durchgang über einen Zweigkanal kommen wir am Jägermeistershop vorbei, den wir aber zunächst links liegen lassen. Auf dem „Großen Zimmerhof“ finden wir unter Nummer 26 das Gründungshaus der Firma Mast und auf dem Gelände des ehemaligen Karstadt- und Hertiehauses befand sich früher die alte Jägermeisterfabrik. Der Große Zimmerhof sollte das auf der Oker angelandete Holz zur schnellen Bearbeitung aufnehmen. Wir wenden uns aber zunächst dem Schloss zu.
Schloss im Spiegel
Ursprünglich war es eine Wasserburg, sein jetziges Aussehen hat das Schloss erst seit dem 18. Jahrhundert. Nach dem Leineschloss in Hannover ist es der größte erhaltene Schlossbau Niedersachsens. Es hat eine Fachwerkfassade mit einem vorgelagerten Steinportal. Im Innenhof fallen die Arkaden auf, bei denen man sich von italienischen Bauten der damaligen Zeit inspirieren ließ. Im Schloss ist ein Gymnasium untergebracht und seit kurzem gibt es einen gläsernen Erweiterungsbau, in dem sich das alte Schloss faszinierend spiegelt.
Das achte Weltwunder
Vorbei am Lessinghaus, in dem „Nathan der Weise“ entstanden sein soll, kommen wir zur weltberühmten Herzog-August-Bibliothek. Die 1572 von Herzog Julius im Schloß gegründete Bibliothek war unter dem gelehrten Büchersammler und Friedensfürsten Herzog August – die größte europäische Büchersammlung und wurde als achtes Weltwunder angesehen. Das in den Jahren 1883 bis 1887 errichtete Bibliotheksgebäude im Stil eines florentinischen Palazzo ersetzte die baufällige berühmte Bibliotheksrotunde des 18. Jahrhunderts und wurde 1962 zu einer modernen Forschungsbibliothek völlig umgestaltet. Die Herzog August Bibliothek umfasst heute circa 800.000 Bände.
Zimmerhöfe und Krambuden
Am Zeughaus vorbei gehen wir zurück zu den Zimmerhöfen und dem Krambuden. Diese beiden Straßenzüge bildeten im 16. Jahrhundert die Grenze zwischen der herzoglichen Residenz und der Bürgerstadt, „Freiheit“ genannt. Die Bewohner waren nämlich für die Hofhaltung tätig und genossen dafür Abgabenfreiheit. Zur Verteidigung der inneren Residenz durften Krämer Verkaufsstände (so genannte Krambuden) aufbauen. Bei kriegerischen Angriffen sollten diese charmanterweise sofort niedergerissen werden und als Barrikaden dienen.
Das Haus Krambuden 6, früher Gaststätte „Alt Wolfenbüttel“, heute „Theos“ ist das einzige Fachwerkhaus der Stadt, das sich mit der Giebelseite der Straße zuwendet, alle anderen stehen mit der Traufenseite zur Straße. Wahrscheinlich ist das der Grund, dass Wolfenbüttel nur wenig unter Bränden zu leiden hatte. Die brennenden Teile fielen die Dächer hinunter auf die Straße und nicht auf benachbarte Häuser.
Durch einen torartigen Durchgang kommen wir auf den Kleinen Zimmerhof, hier steht mit der Nummer 15 und knappen 1,70 Metern Breite das schmalste Haus Wolfenbüttels. Opa Gloeckler, wie sich herausstellt ist er alter Wolfenbütteler, erzählt, dass es sogar lange Zeit das schmalste Haus Deutschlands gewesen sei. Nach „der Wende“ habe dieses Privileg dann ein Haus in Erfurt erhalten.
Klein Venedig
Wir biegen nach rechts in die Stobenstrasse und überqueren eine der wenigen erhaltenen Grachten, von holländischen Städtebauern im späten 16. Jahrhundert angelegt – die das Stadtgebiet planmäßig durchzogen. Die Wolfenbütteler nennen es liebevoll – und zu Recht – „Klein Venedig“. Die Stobenstraße weiter hinauf (früher Badestubenstraße) lag das Rotlichviertel der Stadt, die Nummer 5 ist eines der ältesten erhaltenen Häuser aus der Mitte des 16. Jahrhunderts mit alten Fächerrosetten und lustigen Darstellungen auf den Balkenköpfen. Wir biegen aber ab in die Mühlenstraße. An der Ecke zur Langen Herzogstraße steht das Haus Nummer 63 – Bankhaus Seeliger – das erste steinerne Wohnhaus Wolfenbüttels. Opa Gloeckler bemerkt, dass von „Steinhaus“ der Begriff „steinreich“ abgeleitet sei, Steinhäuser konnten sich eben nur die wirklich Reichen leisten.
Von Konserven und Lumpen: Noch ein paar historische Anekdoten
Wir gehen die Lange Herzogstrasse, die Hauptgeschäftsstraße Wolfenbüttels, entlang und hier endet nach knapp zwei Stunden der erste Teil unseres Rundganges. Nebenbei haben wir von Frau Bethmann natürlich noch jede Menge historische Informationen und Anekdötchen erfahren. So auch, dass Mitte des 18. Jahrhunderts die Residenz nach Braunschweig verlegt wurde und Wolfenbüttel verarmte. Da viele Bürger eine Stoffart namens „Lumpen“ für die Kleider bevorzugte, prägte sich vorübergehend der Begriff „Lumpenbüttel“ ein. Die Stadt erholte sich aber und wurde Gärtnerstadt, was neue Industrien nach sich zog: Bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts war Wolfenbüttel Zentrum der Konservenfabrikation in Deutschland. Dass so viel alte Fachwerksubstanz erhalten blieb, ist dem vorausschauenden Baustil der Wolfenbütteler zu verdanken, dem Umstand, dass die beiden Weltkriege in der Stadt kaum Schaden anrichteten, aber auch dem vorausschauenden Rat der Stadt, der bereits Anfang der 70er Jahre mit der Stadtsanierung begann.
Während des Mittagessens beim Italiener erfahre ich, dass nicht nur Opa Glöckler Wolfenbütteler ist, sondern auch eine siebenköpfige einheimische Keglertruppe nutzt die Stadtführung, um mehr über die Heimat zu erfahren. Aber natürlich auch um mal einen Blick hinter die Kulissen von Jägermeister zu werfen. Aber das ist der zweite Teil unserer Geschichte…
*Der, der da „ich“ sagt, ist Thorsten Windus-Dörr, Journalist und PR-Berater, unterwegs als Blogger für aboutcities.
Wir waren auch schon in anderen Städten unterwegs: In Hann. Münden, in Braunschweig, in Gifhorn und in Verden.
Frank Haide meint
Und ich dachte immer, dass „Lumpenbüttel“ immer nur eine Gemeinheit meines früheren Klassenkameraden Frank B. aus Braunschweig gewesen ist.
Frank Haide meint
Den Song von Jazzkantine kannte ich nich gar nicht. Ist ja witzig.
maxvision meint
Gute Geschichte. Als Neu-Braunschweiger bin ich öfter und gerne in Wolfenbüttel. Stadcafé ist okay, aber ich empfehle auch das Antiquitätencafé am anderen Ende des Stadtmarktes. Wann kommt denn der zweite Teil der Geschichte, Jägermeister interessiert mich natürlich.
about_cities meint
Jo. Antiquitätencafé ist Spitze. Und die Fortsetzung kommt noch vor Ostern.