Ich kann mich noch daran erinnern, wie glücklich ich war, wenn ich Ende der Sechziger Jahre meinen Eltern ab und zu eine Bratwurst aus dem Portemonnaie leiern konnte – entweder bei Mall’s Imbiss in der Roten Straße, bei Hoppe-Happen in der Kurzen Straße oder im Bratwurst-Glöckle am Kornmarkt in Göttingen. Das war zu jener Zeit, als sich in Göttingens Innenstadt noch nicht zahllose Schnellimbisse an jeder Ecke mit ihren blinkenden Reklameschildern zu übertreffen suchten, durchaus etwas Besonderes. Für meine Schwester und mich sowieso, denn unsere Eltern hatten es nicht so dicke. Da war auswärts essen eher selten drin.
Das „Glöckle“ hat überlebt
Wenn es für uns Kids besonders toll lief, dann bekamen wir sogar mal ein halbes Hähnchen bei „Putt vom Grill“ an der Ecke zur Jüdenstraße. Dort, wo heute das Nudelhaus ist. Das war für uns Geschwister dann jedes Mal ein Fest. Alle genannten Imbisse bis auf einen haben etwas Trauriges gemeinsam: Es gibt sie nicht mehr. Nur das Bratwurst-Glöckle hat überlebt. Dem Himmel sei Dank, denn auch heute zieht es mich regelmäßig in die winzige Grillstube, um mir eine „doppelte Curry mit zwei Brötchen“ zu genehmigen. Das sehen augenscheinlich viele Menschen so, denn inzwischen besitzt der Bratwurst-Grill Kultstatus und feiert im kommenden Jahr seinen 100. Geburtstag. Grund genug, mich mit den heutigen Inhabern Jacqueline und Danny Recke über ihren Betrieb zu unterhalten.
Generationen im Familienbesitz
„Seit seiner Eröffnung im Jahr 1920 ist das Bratwurst-Glöckle ein unverzichtbarer Teil von Göttingen, wie manche sagen“, berichtet mir Jacqueline Recke. Und ihr Ehemann ergänzt nicht ohne Stolz, dass das Glöcke als einziger Imbiss in den Reiseführern von Göttingen steht und sogar in der Göttingen-App als Geheimtipp zu finden ist. August Siemsen kam seinerzeit auf die Idee, in einem Hausflur am Kornmarkt Grillwürstchen zu verkaufen, und sein Freund, der Göttinger Schlachtermeister Robert Sommer, lieferte die Rohware. Und so ist es auch heute noch. Von Generation zu Generation blieb die Wurstbraterei im Familienbesitz. Seit 2013 ist Jacqueline Recke Chefin des kultigen Bratwurst-Grills.
Vor dem Umbau war es oft eng
Im Zuge der Übernahme sah sich die neue Inhaberin mit einem Problem konfrontiert. Der Kult-Grill musste aufgrund von Sicherheitsbestimmungen und Brandschutzauflagen umgebaut werden. Bis zu diesem Zeitpunkt standen die futternden Besucher direkt im schmalen Hausflur, den naturgemäß auch die Hausbewohner nutzten. Da wurde es in der Mittagszeit eng für alle Beteiligten. Ich erinnere mich noch gut an den einzigen Zugang, die etwas schwergängige Schiebetür, durch die es im Winter manchmal zog, wenn sie jemand beim Gehen nicht richtig geschlossen hatte. Die Gäste sorgten sich, dass sie ihr gemütliches Ambiente nach dem Umbau nicht mehr vorfinden würden. Dazu gehörte auch die Farbgebung von Wänden und Fliesen in einem Grün-Türkis-Ton, der in den Sechzigerjahren modern war.
Das „Flurgefühl“ wurde bewahrt
Die Sorgen der Gäste waren unbegründet, denn Reckes lösten die Aufgaben mit Bravour. „Wir wollten dieses Flurgefühl beim Umbau unbedingt bewahren“, erzählt Danny, und hatte die Idee, oberhalb des Tresens ein Fenster zum jetzt dahinterliegenden Treppenhaus einzubauen. Nun gibt es zwar getrennte Eingänge für Gäste und Bewohner, aber man kann sich immer noch gegenseitig sehen. Über dem Grill ist wieder ein großer Abzug aus rötlich glänzendem Kupfer installiert worden und die zweistöckige Ablage stellt sicher, dass auch die Kinder von heute im Stehen alleine ihre Wurst essen können. Ein Teil der alten Fliesen konnte zur Freude der Kunden erhalten werden, und dort, wo die originalen Kacheln fehlten, haben die Inhaber neue Steingutplatten mit altem Muster im Digitaldruck ergänzen lassen.
Drei-Gänge-Menü a la Jacqueline bei Bratwurst-Glöckle
„Grün war die Lieblingsfarbe des früheren Inhabers Bodo Stuckenschmidt“, berichtet mir Danny, der darin den Grund der heute etwas antiquiert wirkenden Farbgebung vermutet. Aber genau das lieben die Gäste neben der Wurst. Nach dem Umbau bestanden die Kunden sogar auf den grünen Papierservietten samt den Spendern aus weiß lackiertem Blech. „Allerdings“, so Danny Recke, „waren die Tücher zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr im Handel erhältlich. Also ließen Jacqueline und ich sie eigens produzieren.“ Das nenne ich mal Kundennähe. Auch während der gut dreimonatigen Umbauzeit mussten die Liebhaber nicht auf ihre Wurst verzichten, denn Jacqueline verkaufte ihr „Drei-Gänge-Menü“ (Bratwurst im Brötchen mit Senf) von einem mobilen Holzkohlerost auf dem Fußweg. Mit der Neueröffnung am 16. September 2013 war die glöckle-lose Zeit dann endlich vorüber.
Keanu Reeves isst Krakauer
Zahllose Stammgäste jeglicher Herkunft und aus allen Bevölkerungsschichten treffen im Bratwurst-Glöckle aufeinander. Hier speist der Bauarbeiter in seiner Latzhose neben dem Banker in Anzug und Krawatte. „Das war schon immer so“, sagen die Betreiber, „und das soll auch so bleiben, denn das macht schließlich den Charme aus.“ Eine Dame, die noch für den ersten Inhaber August Siemsen am Grill gearbeitet hat, inzwischen 93 Jahre alt, kommt heute noch regelmäßig auf eine Bratwurst ins „Glöckle“. „Ein gebürtiger Göttinger, der jetzt in Kanada lebt“, erzählt Jacqueline, „kam vor vielen Jahren erstmals wieder in seine Heimatstadt. Er war überglücklich, dass es die Wurstbraterei am Kornmarkt noch gibt.
Auch der eine oder andere Promi hält sich gerne in dem winzigen Gastraum auf. Musikproduzent und Schlagersänger G. G. Anderson isst regelmäßig hier. Auch Hollywoodstar Keanu Reeves hat im „Glöckle“ schon eine Krakauer verputzt. „Wir hatten sogar eine große Hochzeitsgesellschaft hier, die nach der Trauung im Alten Rathaus bei uns zu Mittag gegessen hat“, berichtet Jacqueline lachend. Hoffentlich hat sich die Braut nicht ihr schönes Kleid beschmutzt, denke ich noch. Da hat Danny Recke schon die passende Geschichte parat.
Senf auf dem Pelzmantel
Natürlich kenne ich das kleine weiße Schild im Gastraum. „Verehrte Kunden! Wir übernehmen keine Haftung für Verschmutzungen und Schäden an Ihrer Kleidung, die beim Verzehr entstehen“, ist darauf zu lesen. „Irgendwann in den Siebzigerjahren hatte sich eine Frau ihren Pelzmantel selbst mit Senf bekleckert“, erzählt Danny. Sie bestand darauf, dass der damalige Inhaber Bodo Stuckenschmidt ihr die Reinigung bezahlen sollte, was er aufgrund ihres eigenen Verschuldens ablehnte. Die Frau beschwerte sich massiv, so dass der Inhaber, obwohl er es nicht gemusst hätte, schließlich entnervt die Reinigungskosten übernahm. Auf Anraten des Ordnungsamts hat er danach das besagte Schild im Glöckle angebracht. „Das haben wir beim Umbau noch aus dem Schutt gerettet“, sagt Danny Recke.
Currywurst ist am beliebtesten
Seit jeher lautet die Philosophie im Bratwurst-Glöckle: Die Wurst wird ausschließlich über Holzkohle gegrillt, denn nur so kommen die feinen Röstaromen zur Geltung. „Jacqueline beherrscht Glut und Temperatur in Perfektion, denn es wurde ihr praktisch in die Wiege gelegt“, sagt Ehemann Danny. „Wenn ich das Feuer sehe, weiß ich, ob es richtig ist“, bestätigt seine Frau. So beschränkt wie der Platz im Gastraum ist das Speisenangebot. Es gibt Bratwurst auf der Pappe oder im Brötchen, Bratcurrywurst, auch in der Halbe-Meter-Variante, XXL-Krakauer, Breslauer und Schlesische Bockwurst, Kartoffelsalat und Softdrinks. „Am beliebtesten ist nach wie vor die Currywurst“, sagt Jacqueline.
Es gibt Bratwurst auf der Pappe oder im Brötchen, Bratcurrywurst, auch in der Halbe-Meter-Variante, XXL-Krakauer, Breslauer und Schlesische Bockwurst, Kartoffelsalat und Softdrinks. „Am beliebtesten ist nach wie vor die Currywurst“, sagt Jacqueline.
Das liegt sicher auch an der Sauce. Nach einer geheimen Rezeptur wird sie jeden Tag von der Chefin höchstpersönlich mit dem Rührbesen zubereitet. Sie wurde so stark nachgefragt, dass sie mittlerweile in Flaschen abgefüllt verkauft wird. Viele Göttinger genießen sie am heimischen Grill oder verschicken die Sauce für ihre Lieben in die ganze Welt.
Hier findest Du die Kult-Bude
Bratwurst-Glöckle, Kornmarkt 1, 37073 Göttingen
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