Eigentlich setzen wir bei Stadtführungen kaum einen Fuß über eine Türschwelle und legen den Schwerpunkt auf das kulturelle Epizentrum der Stadt – der ehemaligen Dammfestung mit Schloss und Herzog August Bibliothek. Allerdings geschieht dies nicht bei der Genussmanufaktour. Hier liegt der Fokus auf der Zunge und der Heinrichstadt. Nicht Kultur und höfische Pracht, sondern Handel und Handwerk sollen am authentischen Ort sinnlich erfahren werden. Mit kurzweiligen Erläuterungen zur Stadtgeschichte schlendern wir von einem Geschäft zum anderen und probieren uns durch das jeweilige Sortiment. Bevor es losgeht, bekommen alle noch einen praktischen Wolfenbüttel-Turnbeutel. Modisch kann so jeder praktisch seine Einkäufe verstauen und auf dem Rücken mit sich führen.
Der Aperitif …
Begonnen wird auf dem Stadtmarkt mit einer kurzen Einführung zur Stadtgeschichte: 1570 legte Herzog Julius vor den Toren seines Schlosses ein urbanes Großraumbüro an. In unmittelbarer Nähe zum Hof sollten seine Beamten die Geschicke des kleinen Landes mit Papier, Tinte und Siegelwachs verwalten. Doch wer seine Arbeitszeit in Schreib- und Ratsstuben verbringt, hat keine Kapazitäten Äcker zu bestellen oder Viehzucht zu betreiben – von der Standesungebührlichkeit ganz zu schweigen. Daher verlieh der Fürst seiner neuen Stadt zeitgleich das Marktrecht und förderte das Gewerbe in besonderer Weise. Handel und Handwerk sollten die Versorgung der Stadtbevölkerung sicherstellen. So findet hier seit jeher jeden Mittwoch und Samstag ein Wochenmarkt auf dem malerischen Rathausvorplatz statt.
Der Muddegraben
Erste Station des kulinarischen Stadtbummels – der Kornmarkt. Der größte Platz der Heinrichstadt war zugleich Handelsplatz, der seinen Namen von einer herzoglichen Verordnung ableitet, dass durchfahrende Händler mindestens drei Stunden ihr Korn zum Verkauf anbieten mussten. Entlang des heutigen Busbahnhofes ersteckte sich bis ins 19. Jahrhundert der sogenannte „Muddegraben“ (Mudde – niederdeutsch: Schlamm). Eine Gracht, an der direkt ein Verkaufstand der Schlachter gelegen war. Wenn also die Fleischhauer die Abfälle aus dem sogenannten Fleischscharren beseitigen wollten, warfen diese einfach in den Kanal. Im Sommer muss es dieser Mudde wegen zum Himmel gestunken haben.
Geschichte der Fleischhauer
Ganz andere himmlische Pläne hat ein anderer Vertreter dieser Zunft. Herzog Heinrich Julius, der selbst die Lehre zum Fleischhauer absolvierte, ließ gegenüber der imposanten Palais der Hofbeamten die neue Hauptkirche seines Landes inklusive fürstlicher Grablege errichten. Doch die Zeiten, in dem die Schlachtabfälle in das öffentliche Kanalsystem geworfen wurden und der Souverän noch selbst die Würste machte, sind endgültig vorüber. Heute befindet sich am Platz die zweitälteste Familienschlachterei Deutschlands. Ab 1827 versteht sich Schlachterei „Röber“ auf feinste Wurstspezialitäten. Im Sortiment befindet sich unter anderem die sogenannte „Wolfenbütteler Lessing-Stracke“. Je nach Geschmack gibt es sie mit einer klassischen Salz-Pfeffer-, Knoblauch- oder mediterranen Würzung, erläutert die Inhaberin Sabine Röder.
Der Hauptgang …
Nach der ersten Verköstigung geht es an der Kommisse vorbei, durch die Rathauspassage zum Stammhaus Mast. Mittlerweile weltweit in aller Munde stößt man mit dem Wolfenbütteler Geist aus der grünen Flasche an. Sei es bei der Hochzeit, der Geburt des ersten Kindes, der im Angesicht des eigenen Schweißes zusammengezimmerten Gartenlaube oder Vollendung der alljährliche Steuererklärung – wann in Dänemark der Dannebrog gehisst wird – prostet man sich hierzulande mit Jägermeister zu… am besten eiskalt!
Die Krambuden
Zunächst Richtung „Alt Wolfenbüttel“ – der ältesten Taverne der Stadt. Wer vollmundiges Dunkelbier zu schätzen weiß, kommt an dem Kellerbier der Crailsheimer Brauerei Engel nicht vorbei. „Doch gut gerüstet soll der Magen sein, wer treibt Unmengen Bier hinein!“ weiß der Volksmund. Gegenüber von dieser Kneipe – in der vermutlich auch Lessing schon getrunken haben soll – befindet sich „Tires Grill & Feinkost“. Das von Steffi und ihrem Sohn Nourdin Tires betriebene Geschäft hat die Geschichte auf seiner Seite. Es befindet sich in den sogenannten Krambuden. In den von Arkaden geschützten Gängen vor den Läden, konnten die Händler – zu Residenzzeiten Krämer genannt – ihren Kram verkaufen… und bei Tires erhält man „Kram“ in bester Qualität: Französischen Käse, hausgemachten Quiche, Suppe und wechselnde Mittagsangebote. Wer also zur Stärkung (vor dem Bier) noch etwas Deftiges vertafeln möchte, ist mit der Bratwurst bestens beraten.
Weinberge in Wolfenbüttel
Auf Bratwurst und Bier folgt ein erlesenes Menü bei „Barrique“. Auf einen mediterranen Nudelsalat mit Tomate, Peperoni, Knoblauch, Dattel-Balsamico und italienischem Öl reichte man uns zum Dessert einen Schokotrüffel. Abgerundet wird dies durch den gereichten Wein: Ein Kir-Secco, veredelt mit Cassis-Saft und Schwarzer Johannisbeere, holen einen Hauch von Frühsommer auf die Zunge. Die Weintradition in Wolfenbüttel endete während des Dreißigjährigen Krieges. Vor dem Mühlentore und dem Lechlumer Holz lagen zwei Weinberge, die während der Regentschaft Herzog Augusts in Ackerland verwandelt wurden. Doch mit dem kundigen Mitarbeitern um Jörn Zeisbrich hat die Wolfenbütteler Weintradition einen mehr als würdigen Nachfolger gefunden: Für jede noch so kleine oder bedeutsame gesellschaftliche Gelegenheit kann man hier – neben vielen weiteren Produkten – mit dem passenden Wein unterstreichen.
Mit einem aufmerksamen Blick auf ein Zwerchhaus in der Langen Herzogstraße sieht man einen Chinesen. Von dem Wetter schon etwas vergilbt, ruht er auf der Tür eines Dachspeichers. Vermutlich ließ sich hier vor mehr als hundert Jahren ein Teehändler nieder. Im 18. Jahrhundert kamen die neuen Heißgetränke Tee, Kaffee und Kakao in Europa auf den Markt – vorerst konnten sie auf Grund ihrer horrenden Importpreise nur in aristokratischen Kreisen genossen werden. Inzwischen haben sie aber alle Bereiche der Gesellschaft erobert. Wer jedoch die vollaromatische Arabicabohne in seiner Tasse aufgebrüht wissen möchte, kann dies bei Treccino erleben.
Kaffeegenuss
Dort kehrten wir als nächstes ein, nachdem wir über die Lange Herzogstraße abermals passierten und über „Klein Venedig“ bzw. die Stobenstraße zu dem kleinen Café gelangten. Es wird von den Eheleuten Monika und Andreas Steinig betrieben, die uns sogar ein kurzes und aufschlussreiches Kaffeeseminar gaben. Sie erläuterten während zwei frisch aufgesetzten Tassen Filterkaffee die Herkunft ihrer Bohnen: bis zu ihrem Ursprung zurück verfolgbar, beziehen sie die den Kaffee aus Hamburg, Bremen oder Bordeaux, um ihn dann hier Am Alten Tore zu rösten. In unserem Fall gab es zum einen den eher milden „El Puente“-Kaffee aus Costa Rica und zum anderen den kräftigeren „Monsooned Malabar“- Kaffee aus Indien. Die Bohnen rösten die Steinigs übrigens selbst für einen bekömmlicheren Genuss des schwarzen Sudes.
Der Digestif …
Der letzte Gang wird eingeläutet: Am Stadtmodell erfahren wir etwas über den wahren Erfinder des IKEA-Prinzips: einem Weg, dem man unausweichlich folgen muss um zu zum Ziel – einer Kasse oder zu einem Schloss im Falle Herzog Julius‘ – zu gelangen. Holz-, Korn- und Stadtmarkt, Krambuden und Dammfestung bildeten eine Art Prachtstraße, die zum Herzog führte. Der Besucher erblicke auf diesem Weg zum einem alle steinernen Gebäude: Kaisertor, Hauptkirche, Kommisse, Kanzlei, Bankhaus Seeliger, Zeughaus, Schloss.
Häuser aus Holz und Stein
Im Vergleich zu Holz ist der häufig verwendete Elmkalktstein ein vielfach teureres Baumaterial. Diejenigen, die mit Stein bauen konnten, galten als reich – redensartlich „steinreich“. Darüber hinaus passierte man die drei großen Handelsplätze der Stadt und erblickte beim Durchqueren der Krambuden die zur Schau gestellten Waren. Abgerundet wird dieser leicht im zick-zack geführte Weg durch die Abfolge großer Plätze und langer Straßen. Insgesamt ergibt dieses vors Auge führen von wirtschaftlicher Macht und beeindruckender baulicher Größe eine „optische Täuschung“, welche die Stadt in der Okerniederung in allen Belangen größer erscheinen ließ, als sie tatsächlich war.
Nach mehr als drei Stunden der Histörchen, des Lustwandelns und des Schlemmens endete auch die Genussmanufaktour durch die Lessingstadt. Unterm Strich pro Person: drei Gläser verschiedene Sorten Wein, ½ Wurst, eine Schale Nudelsalat, zwei Tassen Kaffee, ein Stück Baguette mit Cashew-Tomaten-Pesto, ein Schokotrüffel, 3cl Gin, etwas Knabbergebäck, eine schöne historische Altstadt und gute Laune.
Lust auf noch mehr Infos? Hier gibt es das offizielle Video zur Genussmanufaktour:
Der Beitrag ist zuerst unter dem Titel Genussmanufaktour – Häppchen aus Stadtgeschichte und lokalen Feinkostläden auf www.echtlessig.de erschienen.
[…] Wahrscheinlich war das mit ein Grund, warum wir seit diesem Sommer in unserer Lessingstadt einen kulinarischen Rundgang anbieten, der wie das sprichwörtliche „geschnittene Brot“ läuft. Ihr könnt lockere […]