Einst der gebeutelte, um seinen Lohn betrogene Sündenbock, nun das Gesicht der Stadt Hameln, weltweit bekannt für seine Geschichte. Na klar, die Rede ist von dem Rattenfänger von Hameln. Kinder entführt er seit 1284 übrigens nicht mehr. Vielmehr könnte man sagen, er hat die Seite gewechselt, denn der Rattenfänger führt Touristinnen und Touristen mit seinem Flötenspiel durch die Altstadt von Hameln und erzählt seine Geschichte an den Originalschauplätzen. Verloren gegangen ist dabei bisher niemand.
Als Hamelnerin begleitet mich der bunte Pfeifer schon mein Leben lang. Ich kann die Melodien mitsummen und erkenne die bunten Strumpfhosen auf 100 Meter Entfernung. Was ich mich schon oft gefragt habe: Wer steckt eigentlich hinter dem dunklen Gesellen und wie wird man hauptberuflich zum Rattenfänger von Hameln? Und nun sitzt er hier, in meinem Büro und nimmt sich die Zeit, meine Fragen zu beantworten. Michael Boyer, DER hauptamtliche Rattenfänger von Hameln.
Michael Boyer könnte, nach eigener Aussage, 7 Stunden und länger über den Rattenfänger erzählen. Das glaube ich ihm aufs Wort. Schnell wird klar, er kennt so ziemlich alles, was je über den Pfeifer veröffentlicht wurde. Fangen wir aber vorne an:
Von der US amerikanischen Militärpolizei zur Sagenfigur in Hameln
Michael Boyer ist US-Amerikaner und ganz in der Nähe von Hameln aufgewachsen. Also in der Nähe der amerikanischen Kleinstadt Hameln. Zufall? Die erste Begegnung mit dem „Pied Piper“ hatte er in der dritten Klasse und was soll man sagen – es hat ihn direkt gefesselt. Als Militärpolizist verschlug es ihn ins Weserbergland und mit ein paar Umwegen nach Hameln. Nun schreibt die lokale Zeitung 1993, dass man sich bei der HMT vorstellen könne, einen hauptamtlichen Rattenfänger einzustellen. Eine Initiativbewerbung und ein Gespräch mit einem siebenköpfigen Komitee später ist klar: Michael Boyer wird der Rattenfänger von Hameln. Also unter Vorbehalt, denn in seiner Probezeit muss er das Flöte spielen lernen. Der Rest ist Geschichte. Seit 30 Jahren zieht Michael Boyer als Rattenfänger nicht nur durch die Hamelner Altstadt, er präsentiert unsere schöne Stadt sogar weltweit. Bis nach Tokyo hat es ihn und seine Flöte verschlagen.
Ich lerne viel in unserem Gespräch und merke schnell, ein Blogbeitrag reicht nicht aus, um der Geschichte des Mannes im Rattenfängerkostüm gerecht zu werden. Auf jeden Fall ist sich Michael Boyer sicher, die Sage ist wahr. Oder dass zumindest eine Wahrheit hinter dem Mysterium rund um Schuld, Sühne und die traumatische Erfahrung steckt. Und obwohl er oft ausgelassen wirkt und immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hat, behandelt er die Figur und die Sage mit Respekt. Es ist ihm „eine Ehre, das lebendige Äquivalent zum Kölner Dom zu sein“, denn die Rattenfängersage und die gesellschaftliche Auseinandersetzung damit ist immaterielles Kulturerbe.
Wo sind die Kinder?
Auf meine Frage, ob er oft nach dem Aufenthaltsort der verschwundenen Kinder gefragt würde, teilt Michael Boyer eine interessante Beobachtung mit mir: Nur in Deutschland ist er der „Rattenfänger“, was unter deutschen Besuchenden immer die Frage nach den Ratten aufwirft. In allen anderen Teilen der Welt heißt er „Pied Piper“, also Flötenspieler und internationale Gäste fragen tatsächlich eher nach den Kindern. Die Ratten tauchen in der ursprünglichen Geschichte ja sowieso erst 100 Jahre später auf und das auch in einer Version aus Süddeutschland und … Michael Boyer weiß genau, wen er da verkörpert und mit einem unfassbaren Hintergrundwissen weltweit repräsentiert.
Mit ist einiges klar geworden: Ein Gespräch mit dem Rattenfänger von Hameln lohnt sich. Michael Boyer ist ein Original. Er hat viel zu erzählen und hier und heute reichen weder die Zeit noch vorgegebene Anzahl der Zeichen. Wer in Hameln ist, sollte eine Stadtführung mit ihm unbedingt mitnehmen und ja, natürlich gibt er auch Autogramme.
Eine Stadtführung mit dem Rattenfänger kannst du gleich hier buchen. Und einen Eindruck der Führung erhaltet ihr hier.