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Papier, Fotografie, neue Medien

Es hat lange gedauert und die Geduld aller Beteiligten auf eine harte Probe gestellt. Immer wieder musste coronabedingt um- und neu geplant werden, doch nun ist es endlich soweit. Am 4. Juni 2021 wird das Kunsthaus Göttingen mit einer umfassenden Einzelausstellung der New Yorker Künstlerin Roni Horn offiziell eröffnet. Im Jahr 2008 als Idee vorgestellt, hat sich in Göttingens historischem Stadtkern, zwischen Düstere Straße, Nikolaikirchhof, Nikolai- und Turmstraße, das Kunstquartier – kurz „KuQua“ entwickelt. Dessen Herzstück bildet das Kunsthaus Göttingen, ein Ausstellungshaus für Arbeiten auf Papier, Fotografie und neue Medien.

Eröffnungsausstellung
von Roni Horn

Roni Horn, aus: You are the Weather, Part 2, 2010-2011
Foto: © 2021 Stefan Altenburger / Courtesy of the artist and Hauser & Wirth

„Wir sind so glücklich über die Lockerungen“, sagt Dorle Meyer, Geschäftsleiterin des Kunsthauses, erleichtert. „Nun können wir mit einer limitierten Personenzahl, Voranmeldung und Hygienekonzept endlich Menschen in unser Haus lassen.“ Florian Winkler leitet die Bildung und Vermittlung des Kunsthauses. „Man kann natürlich auch digital viel machen“, sagt er, „aber so ein Haus lebt von der Aura, von der unmittelbaren Begegnung mit Kunst.“

Roni Horn: Dogs’ Chorus — Let Slip to the Ends of the Earth, 2016
Foto: © 2021 Ron Amstutz / Courtesy of the artist and Hauser & Wirth

Ich selbst bin gespannt auf die Arbeiten von Roni Horn, denn die Ausstellung „You are the weather“ soll einen umfassenden Einblick in ihr vielfältiges künstlerisches Schaffen geben. Exemplarisch für den Fokus des Kunsthauses werden Arbeiten auf Papier, Zeichnungen, Buchkunst und Fotografie der Künstlerin präsentiert. Die Themenkomplexe „Wetter und Wasser“, sicher Horns Aufenthalten in Island zu verdanken, „Bewusstsein und Wahrnehmung“ sowie das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Sprache werden im Mittelpunkt stehen.

Maßgeschneiderte
Angebote für Kinder

Multimedial: jungen Menschen neue Perspektiven eröffnen.
Foto: © 2021 Emilia Hesse / Steidl Publishers

Die Eröffnungsausstellung wird, wie jede weitere auch, in einem abwechslungsreichen Veranstaltungsangebot mit Themenführungen, Workshops und Vorträgen vertieft. Hier kommt Florian Winkler ins Spiel. Er hat spezielle Konzepte für die Arbeit mit Kindern gestaltet. „Wir werden unsere Angebote maßgeschneidert auf die jeweilige Ausstellung abstimmen“, sagt er, „und die Kids spielerisch an die Werke heranführen.“

Konzepte für Kinder: ausprobieren und selber machen.
© 2021 Florian Winkler / Kunsthaus Göttingen


Für die Eröffnungsausstellung bietet Roni Horn, die in vielen ihrer Werke mit der Sprache spielt, quasi eine erste Steilvorlage. In ihrem Motiv „Smaller Bundles Cram“ beispielsweise, hat sie ein Gedicht von Emily Dickinson (1830 – 1886) auf einer Island-Karte in einen neuen Kontext gesetzt. Sie erforscht damit nicht nur die Autorin auf verschiedenen Ebenen, sondern sich selbst gleichermaßen. „Hier können wir auch mit den Kindern ansetzen“, sagt Florian, „indem wir so etwas ins Deutsche übertragen und zeigen, wie man Sprache beeinflussen und buchstäblich mit ihr spielen kann“.

Roni Horn: Smaller Bundles Cram, 1990
Foto: © 2021 Ron Amstutz / Courtesy of the artist and Hauser & Wirth

Kunst ist nichts Elitäres

Trockene Lehrveranstaltungen soll es für die jungen Menschen nicht geben, sondern aktive Workshops, wie etwa Zeichnen oder Linolschnitt, wo die Kinder sich unter Anleitung ausprobieren können. „Bei uns ist selber machen angesagt“, verspricht Florian, „es geht darum, gemeinsame Erfahrungen zu schaffen, vielseitige Perspektiven zu eröffnen und Horizonte zu erweitern.

Kunst für alle bieten: Florian Winkler und Dorle Meyer.
Foto: Christoph Mischke

„Die Angebote werden thematisch konzipiert, nach Medien oder auch nach Zielgruppen“, berichtet er, und wir haben dazu schon ein umfangreiches Netzwerk mit kompetenten Partnern aufgebaut.“ Auch zahlreiche Kontakte mit Schulen sind bereits geknüpft, denn das Kunsthaus versteht sich als außerschulischer Lernort. „Wir möchten vermitteln, interagieren und die Kunst nach außen tragen“, ergänzt Dorle Meyer. „Dabei möchten wir alle abholen, denn Kunst ist nichts Elitäres.“ Ein Credo, das für Jung und Alt gleichermaßen gilt.

Spitzdach und viel Raum

Mitten in der City: Die Baugrube am 4. Mai 2018.
Foto: Christoph Mischke

Eigens für diese wunderbare Art der Kunstvermittlung wurde im Dachgeschoss ein rund 100 Quadratmeter großes „Forum“ eingerichtet, das auch für Sonderveranstaltungen genutzt werden kann. Überhaupt bietet das Kunsthaus überraschend viel Raum, was man von außen gar nicht vermutet. Viergeschossig und mit einem Spitzdach versehen, orientiert es sich an den benachbarten Fachwerkhäusern.

Strukturputz zwischen Fachwerk: die schlichte Fassade.
Foto: Christoph Mischke
Fotomotiv: Schattenspiele auf dem gerillten Putz.
Foto: Christoph Mischke

Durch seine drei Auskragungen erweitert sich die Grundfläche nach oben hin. Der gerillte Putz der Fassade weckt einerseits Erinnerungen an ehemalige Lagerhäuser aus der Umgebung. „Für uns spiegelt er aber auch das essentielle Material unserer Ausstellungen wider, das Papier“, sagt die Geschäftsleiterin. So sieht das auch mein Fotografenauge und lacht, wenn die Sonne mal wieder die Schatten von Passanten auf die waagerechten strukturierten Linien wirft, die durchaus auch geschichtetes Papier oder Buchseiten symbolisieren können.

Kinderspielplatz meets Pop-Art

Pop-Art im Innenhof: Jim Dines „House of Words“.
Foto: © 2021 Harf Zimmermann

Durch das Foyer des Hauses erreicht man einen Innenhof – gleichsam den Garten des Hauses. Hier entsteht gerade eine grüne Oase, ein Ort, wo Menschen sich treffen, verweilen und austauschen können und sollen. Wie bereits vor dem Bau des Kunsthauses wird es an dieser Stelle auch wieder einen Kinderspielplatz geben. In dem nach außen hin eingefassten Garten können die Kinder sich frei bewegen und nach Herzenslust toben oder im Sand buddeln. Im Innenhof erwartet die Besucher außerdem das „House of Words“ des Pop-Art-Künstlers Jim Dine. Seine dort erlebbare Rauminstallation „Poet Singing [The Flowering Sheets] ist ein weiteres Highlight. Genug Stoff für einen späteren Blog-Beitrag.

Säulenfreie Galerieräume

Kontrast: Sichtbeton und schwarzer Stahl im Treppenhaus.
Foto: Christoph Mischke
Inklusiv geplant: Betextung auch in Braille-Schrift.
Foto: Christoph Mischke

Die Besonderheit des Gebäudes sind drei rund 120 Quadratmeter große und 3,20 Meter hohe Galerieräume. Der Bautechnik sei Dank, konnten sie sämtlich säulen- und stützenfrei gestaltet werden. „Dies erlaubt uns, über alle Geschosse hinweg, ein Höchstmaß an Flexibilität im Arrangement verschiedener Ausstellungskonzeptionen“, berichtet Dorle Meyer. Jeder Galerieraum besitzt nur ein schmales, bodentiefes Fenster, das bei Bedarf verdeckt werden kann. „Wir hätten natürlich mehr Fenster planen können, was aber keinen Sinn gemacht hätte, denn wir hätten sie im Prinzip immer aufwendig verschließen müssen, um die licht- und UV-empfindlichen Papierarbeiten, Grafiken und Fotografien zu schützen. Das ist eine Auflage der Leihgeber, genauso wie die Klimatisierung, die hier im Haus absolut nachhaltig ausgelegt ist.“ Auch die Lichtanlage ist, je nach Werk und Auflagen der Leihgeber, individuell steuerbar.

Erfolgreicher „Testlauf“

Fensterlos und säulenfrei: die Galerieräume.
Foto: Christoph Mischke

Wie hervorragend das in der Praxis funktioniert, konnte ich bereits beim Testlauf „Vom Buch an die Wand/From book to Wall“ betrachten. Testlauf – was wie ein nüchterner Begriff aus der Maschinentechnik, wie eine Generalprobe klingt, ist in Wahrheit ein extrem spannendes, regelmäßiges Ausstellungsformat, das den persönlichen Austausch zwischen Künstler*innen und Publikum vorsieht. Noch vor der eigentlichen Eröffnung des Kunsthauses bekam ich Einblicke in die Arbeit des französischen Fotografen Gilles Peress und des Göttinger Verlegers Gerhard Steidl, der seinen Verlag in unmittelbarer Nachbarschaft des Kunsthauses betreibt. Erwartet hatte ich eine Fotoausstellung, erlebt habe ich viel mehr als das, nämlich die Geschichte der Entstehung eines Buches. Erzählt von einem weltweit renommierten Fotografen und einem Verleger, der an seine Bücher höchste Qualitätsmaßstäbe anlegt. Steidl ist außerdem ehrenamtlicher Gründungsdirektor des Kunsthauses.

Fotos 30 Jahre unter Verschluss

Das F-Wort: Protest hat viele Ausdrucksformen.
Foto: Christoph Mischke

1972 fotografierte Gilles Peress in der nordirischen Stadt Derry das Massaker, das Teile der Britischen Armee an irischen Zivilisten verüben. Dieser 30. Januar 1972 geht in die Geschichtsbücher als „Bloody Sunday“ ein. In den 1980er Jahren kehrte der Fotograf nach Nordirland zurück. Er versuchte, diesen augenscheinlich unlösbaren und immer weiter eskalierenden Konflikt zu begreifen, indem er mit seiner Kamera die Möglichkeiten der visuellen Sprache und Wahrnehmung ausschöpfte. Tage voller Gewalt, Demonstrationen, Aufstände, Trauer, Arbeitslosigkeit. Im Kontrast dazu, Motive voller Spaß und Freude, die Iren nennen es „craic“. All das, was Menschen tun, um die hässliche Fratze des gewaltgeprägten Daseins vergessen und die eigene Situation erträglich erscheinen zu lassen. Die entstandenen Fotografien hat Gilles Peress 30 Jahre unter Verschluss gehalten.

Ein Buch entsteht

Leidenschaftlicher Büchermacher: Verleger Gerhard Steidl.
Foto: Christoph Mischke

Bereits im Jahr 2003 hatte Peress mit Gerhard Steidl über eine Buch-Idee gesprochen und der Testlauf beobachtete den fast 20 Jahre dauernden inneren Prozess der Entstehung des Buches „Whatever You Say, Say Nothing“. Riesige Stapel von Druckbögen lagen auf hölzernen Paletten, die handgeschriebenen Notizen des Druckers klemmten zwischen den unterschiedlichen Abschnitten, und gaben Einblicke in die Produktion. Prüfdrucke, sogenannte Proofs, das sind simulierte Ergebnisse vor dem eigentlichen Druck, um eventuelle Fehler frühzeitig zu erkennen, füllten collagenartig fast eine komplette Wand des Raumes. Türme von Dosen der verwendeten Druckfarben, Behälter mit halbglänzendem Veredlungslack und die originalen Druckplatten aus matt schimmerndem Aluminium ließen Rückschlüsse auf einen aufwendigen Druck zu.

Mit Strukturen gespielt

Darstellungsformen ausprobiert: Peress-Fotos als Leporello.
Foto: Christoph Mischke

Und die Bilder selbst? Sie wurden, sämtlich ungerahmt, in ganz unterschiedlichen Techniken präsentiert. Hier mit Klebestreifen an die Wand gepinnt, dort als senkrechter Leporello an der Wand oder, waagerecht, im Zickzack übereinander gestapelt. Mosaik nennt es Steidl. Zwölf großformatige Bilder wurden auf Büttenpapier gedruckt und forderten den Betrachter wandbreit auf, sich auf nur scheinbar Gegensätzliches einzulassen. So penibel die Produktion war, so roh und ungeschliffen wirkte die Ausstellung und entfaltete dadurch ihren Reiz. „Wir haben hier mit Strukturen gespielt und Darstellungsformen jenseits von Bilderrahmen und Passepartouts ausprobiert“, sagte mir der Direktor. Mit diesen Eindrücken im Kopf, etwas Einzigartiges erlebt zu haben, freue mich extrem auf die Kunsthaus-Eröffnung am 4. Juni und bin sehr gespannt auf alles, was da noch kommt. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass der Eintritt ins Kunsthaus kostenlos ist?

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