Ich bin ein großer Fan des Piesbergs und von allem, was dazu gehört: Museum Industriekultur und üppiger Wald, Felsrippe und Aussichtsplattform, Gesellschaftshaus und Zechenbahnhof. Dieses Mal ist etwas Neues dazu gekommen: Theater im Steinbrecher. Er ist einer von etwa 10 Theater-Spielorten rund um und im Piesberger Gesellschaftshaus, an die ich euch heute Abend mitnehme.
Immer gut für Außergewöhnliches – das Piesberger Gesellschaftshaus
Es ist Vor-Premiere des Theaterstücks „Garderobe 45“ und dahinter steckt eine ebenso wahre wie irre Geschichte, die vor über 60 Jahre genau hier begann: Im Piesberger Gesellschaftshaus waren 1945 nach Kriegsende Flüchtlinge untergebracht. In der Garderobe wurde damals eine junge Frau mit Verdacht auf Blinddarmentzündung von einem kleinen Jungen entbunden. Dieser kleine Junge heißt Wolfgang Meironke und er kam über 60 Jahre später ins Piesberger Gesellschaftshaus – zurück zu seinem Geburtsort. Seine Geschichte erzählt die Geschichte vieler Flüchtlinge und die Zeit der sog. „Stunde Null“ in Osnabrück: Sprachlosigkeit und Schweigen, „Durchwurschteln“ und Schlange stehen und natürlich auch die große Sehnsucht nach Vergnügen und Ablenkung. Im Piesberger Gesellschaftshaus – Ende des 19. Jhd. als Vergnügungsort für die Bergarbeiter erbaut und im Krieg kaum zerstört -, geschah all das nach ’45 parallel: Flüchtlingsfamilien im Keller, Verwaltungsräume der Besatzungsmacht und Feiern im abgetrennten Tanzsaal.
Und genau dort geht es auch für uns los. Meine Eintrittskarte gewährt mir Zutritt zur ersten Bürgerversammlung in „Kamlages Saal“. Ich hole mir noch ein Bier an der Theke – so eine erste Bürgerversammlung, das kann dauern. Tut es aber nicht, denn der Vorsitzende entpuppt sich als „persil-gewaschener“ Altnazi und die Versammlung endet tumultartig. Wir folgen den Schauspielern raus ins Gelände zum – genau: alten Steinbrecher. Da wollte ich immer schon mal rein.
Das Innere des alten Steinbrechers
Jetzt läuten Glocken und die schweren Türen öffnen sich. Wir folgen einer Frau mit Kinderwagen ins düstere Innere dieser Anlage. Videoinstallationen an den rauen Betonwänden versetzen mich in eine Zeit nach ’45, die ich natürlich nur aus Bildern kenne.
Stimmen rufen von irgendwo nach Vermissten, Namen werden mit Kreide an die Wänden geschrieben und dank der Schummrigkeit verliere ich selbst ein wenig die Orientierung. Am Ende des Gebäudes öffnet sich der Blick in ein fast Karl-May-festspieltaugliches Areal.
Hier geht es weiter: Vertreibung der zurück gebliebenen Frauen aus ihrer Heimat. Fahrt ins Ungewisse. Ankunft in einer schwer zerstörten Stadt. Endstation und Neuanfang zugleich: Osnabrück.
Auch wir steigen für die nächste Theater-Station in einen Zug aus dem Jahr 1927, der draußen vor dem Steinbrecher auf uns wartet. Allerdings werden wir freundlich begrüßt und bekommen alle einen Sitzplatz. Auch pünktlich ist er – das muss erwähnt werden.
Nach kurzer Fahrt kommen wir am alten Zechenbahnhof an. Die „Grenzgänger“ begrüßen uns auf den Gleisen mit melancholischen Liedern aus der Nachkriegszeit: „…und über uns der Himmel – lässt uns nicht untergehen…“ . Damals gesungen von Hans Albers, klingt das Lied wie ein Mantra auf eine bessere Zukunft – mit ungebrochener Sehnsucht und Aktualität.
Trauma und Vergnügen dicht beieinander
In Kleingruppen geht es für uns weiter: Wir reihen uns ein in die Schlange vor dem Lebensmittelladen von Herrn Sommer, der wieder zu spät kommt und das Gewünschte zwar nicht hat, aber immer ein freundliches Wort. Anschließend heißt uns „Hille“ in ihren Kellerräumen herzlich willkommen. Sie hat ein paar Lebensmittel aus der Küche der Winkelhauskaserne mitgehen lassen, in der sie für die Engländer arbeitet. Das wurde zwar bemerkt, aber nicht verpfiffen. Und dann sind wir in der Garderobe und am Anfang der Geschichte.
Hier erfahren wir – vorgelesen aus einem alten Brief – das Schicksal der jungen Flüchtlingsmutter. Danach ist es ziemlich still. Ein paar Momente jedenfalls. So lange, bis wir Gast im Garten des damaligen Bergwerksdirektors sind. Da läuft das Kontrastprogramm.
Lass krachen und die Mäuse tanzen – Wir amüsieren uns! Die Nachbarn des Piesberger Gesellschaftshauses öffnen ihren Garten für uns und laden zum Mitfeiern ein. Beklemmung dann wieder beim folgenden Spielort: In der Krankenstation am Zechenbahnhof trifft ein herrisch-verstörter Arzt auf einen traumatisierten Soldaten, der nach Osnabrück zurückkommt und vor dem vollständigen Nichts steht. Ohne nur ein einziges mal auf- und den Patienten anzusehen, empfiehlt der Doktor Kamillentee bei Schlafstörungen und Krämpfen. Und wir verlassen beklommen diese hilflose Krankenstation. Zurück im mittlerweile illuminierten Kastaniengarten des Gesellschaftshauses empfangen uns erneut die „Grenzgänger“ mit ihren „Liedern zwischen den Zeiten“, bevor es fürs Finale wieder in den Tanzsaal geht.
Drei Stunden sind im Nu verflogen: 10 Spielorte voller Kontraste, frische Luft und die Gelegenheit zu Gesprächen mit den anderen Theaterbesuchern. Die „Ortsbespielung an Originalschauplätzen“ basiert zu 100 % auf Erzählungen von Zeitzeugen. Und könnte doch aktueller nicht sein. Ich lande sehr beeindruckt im Tanzsaal, zufällig wieder an der Theke. Für mich war das ein Theaterabend mit dem Prädikat „besonders empfehlenswert“. Wenn auch ihr ihn erleben wollt, habt ihr dazu noch Gelegenheit am 10., 11., 16. und 17. Juni. Karten unbedingt hier vorbestellen.
Wer den Termin nicht schafft, dem empfehle ich den Kulturflohmarkt am 3.7. von 9.00 – 16.00 h.
Und noch ein Tipp für Theaterliebhaber: Die Probebühne in Osnabrück wird in diesen Tagen 50 und feiert mit Goldoni „Die Trilogie der schönen Ferienzeit“. Gutes Timing.
Hier gibt es ausführliche Infos und (Wander-)Karten für den Piesberg . (PS.: gerade ausprobiert: kleine Wanderung und Picknick auf der Felsrippe mit grandiosem Blick in den Steinbruch oder den Teutoburger Wald – je nachdem, ob man links oder rechts schaut).