Stolpersteine – vielen ist dies ein Begriff. Viel zu vielen aber noch nicht. Kleine Gedenktafeln, bestehend aus einem Betonwürfel und einer beschrifteten Messingplatte, wollen bewusst, dass man mit dem Blick über sie stolpert. Eine leichte Beugung, manche sagen „Verbeugung“ vor den Verfolgten, ist notwendig, um die Inschrift mit Angaben über den Namen, Geburtsdatum, Deportationsjahr und Schicksal lesen zu können. Im Boden verlegt, vor den letzten Wohnhäusern derer, die dem Nationalsozialismus zum Opfer fielen, sollen sie daran erinnern, dass auch vor der eigenen Haustür Dinge geschehen sind, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Zeitlich wächst der Abstand zur Vergangenheit, doch die Orte der Geschehnisse sind oft näher, als man es vermutet. Wir haben uns auf den Weg entland der Stolpersteine in Stade gemacht.
„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“ – Talmud
Auch ich durfte vor kurzem diese Erfahrung machen. Während der neuen Themenführung „Stolpersteine“ in Stade begebe ich mich zu den besagten Plätzen in den Altstadtgassen. Eine sehr persönliche Reise durch die NS-Zeit, da wir uns von Stein zu Stein, von Namen zu Namen, von der gescheiterten Karriere des Einen zur heimlichen Liebe der Anderen begeben. Nach und nach erhält man Gesichter zu den Personen, geschaffene Charaktere lassen den Zuhörer in der Geschichte versinken.
Die Führung beginnt an der Alten Kaserne am Platz Am Sande. Kein typischer Beginn mit Zahlen, Daten, Fakten wartet auf uns. Es wird betont, wie wichtig diese Führung sei. Wie wichtig es sei, dieses Tabu-Thema aufzuarbeiten und sich damit zu beschäftigen.
Formen der Gedenkstätten
Erst im zweiten Anlauf wurde der Verlegung der Stolpersteine in Stade zugestimmt. Es gäbe bereits Gedenkstätten, hieß es bei der ersten Anfrage. So wie die Stelen, vor denen wir zurzeit stehen. Namen von Juden und Sinti, die aufgrund ihrer „Rasse“, in der Definition der Nazis, verfolgt wurden, bilden die Inschrift. Solche Stele mit erschreckenden Daten steht ebenfalls vor der Kirche St. Wilhadi, nur wenige Straßen weiter. Zahlreiche polnische Zwangsarbeiter werden damals nach Deutschland gebracht. Ungefähr eine Hälfte Männer und eine Hälfte Frauen – gleich und gleich soll sich paaren und aufgrund der „Reinheit“ von Deutschen fern gehalten werden.
Schwangere Zwangsarbeiterinnen schickte man anfangs zurück in die Heimat, doch als immer mehr Frauen diese Möglichkeit, zurück nach Hause zu kommen, erkennen, wird eingeschritten: Es folgen zahlreiche Zwangsabtreibungen oder der Weg der Frauen führt in ein Kinderheim, um dort die Kinder zu gebären. Die jungen Frauen treten nach drei Tagen wieder ihre Arbeit an und die Kinder bleiben im Heim. Über die dortigen Umstände möchte ich gar nicht weiter nachdenken, als ich die Inschriften auf der Stele vor der Kirche St. Wilhadi genauer beobachte. Vier Monate, zwei Wochen oder einen Tag verbringen die Kleinen teilweise nur auf der Welt.
So richtig vorstellen kann ich mir nicht, dass dies alles in Stade geschehen ist – vielleicht möchte ich es auch einfach nicht. Eine schreckliche Lebensgeschichte jagt die nächste. Aber auch in dieser Zeit gibt es kleine Lichtblicke. Einige Bauern, die schwangere Zwangsarbeiterinnen beherbergen, bieten ihnen einen Platz auf dem Hof an, da sich die hohe Sterberate in den Kinderheimen schnell herumspricht. Mutter und Kind überleben. Menschen wehren sich, schreien auf bei öffentlichen Hinrichtungen, obwohl sie wissen, was ihnen droht.
Licht in einer dunklen Zeit
Einer dieser Lichtblicke ist Pastor Behrens. Nach Stade hat es ihn gezogen, um das Amt als zweiter Pastor an St. Wilhadi anzutreten. Ruhige Jahre vergehen, in denen er aber bereits kritisch dem Nationalsozialismus gegenüber steht. Es folgt die Machtergreifung, was bei ihm alles andere als Schweigen auslöst. Schon im Kindergarten ginge es los mit der Gehirnwäsche, was für ihn Grund genug ist, auch im Umgang mit Konfirmanden nicht zurück zu treten. Im Gegenteil: Er verteidigt im Unterricht alle nationalsozialistischen Umdeutungen der Bibel. Kinder erzählen es den Eltern, die Eltern sind erbost.
Was viele Bürger ebenso aufregt, ist Pastor Behrens Verhalten gegen die Vorschriften. Er traut weiterhin Juden und Mischlingsehen, er tauft jüdische Kinder. Grund genug für einige Anwohner, ihm eine Lektion zu erteilen. An einem Septemberabend im Jahr 1935 wird er überfallen, die Hände gefesselt und Schilder auf Brust und Rücken mit Aufschriften wie „Ich bin ein Judenknecht“ gehängt. Von einer Menschenmenge, begleitet durch eine Musikkapelle, wird er wie ein Vieh durch die Straßen getrieben, bis er endlich vom herbeigerufenen Regierungspräsidenten befreit wird.
Vorübergehend beurlaubt zieht es ihn schlussendlich wieder in seine Heimat nach Ostfriesland. In Stade stehen wir nun vor dem nach ihm benannten Pastor-Behrens-Haus, direkt neben der Kirche St. Wilhadi, welches heute als Gemeindezentrum der evangelisch-lutherischen Innenstadtgemeinden dient.
Tragische und für mich unvorstellbare Vorfälle werden uns über zwei Stunden berichtet. Ein erdrückendes, schweres Gefühl umgibt uns. Normalerweise endet eine Führung mit „Ich hoffe, Ihnen hat es gefallen“, aber diese Worte fallen heute bewusst nicht. Tourismus bedeutet nicht immer Spaß und Freude. Es bedeutet auch, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen, Tabu-Themen zu behandeln und aufzuarbeiten. Langsam löst sich die Gruppe auf und macht sich auf den Heimweg. Vielleicht auch durch eine Straße, hinter der viel mehr steckt, als man vermuten mag. Eine Straße, in der ein Stolperstein gepflastert ist.
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