Website-Icon about cities | Der Städteblog für Niedersachsen

Dumpfer Rumms und schwankender Fels

Göttingen, die Stadt die Wissen schafft, gilt schon seit rund zwei Jahrhunderten als ein Zentrum der Messtechnik. Zahlreiche Traditionsunternehmen wie Sartorius, Mahr, Zeiss, Lambrecht Meteo oder Adolf Thies wirken hier mit höchstmöglicher Präzision. Eine für unsere Breiten ganz und gar untypische Messtation befindet sich hoch oben auf dem Hainberg im Göttinger Wald: die Wiechert’sche Erdbebenwarte. 1903 in Betrieb genommen, ist sie die älteste aktive seismische Mess-Station der Welt. Der Geophysiker Emil Wiechert forschte dort seit 1901 auf den Gebieten der Seismik, des Erdmagnetismus, der Luftelektrizität und der Meteorologie. Weil das absolut spannend klingt, habe ich die Station für euch besucht.

Vor dem Abriss gerettet

Aufmerksam: Studenten aus San Diego besuchen die Erdbebenwarte. Foto: Christoph Mischke

Während es draußen regnet und stürmt, lauschen Studierende der Shiley-Marcos School of Engineering, die aus dem kalifornischen San Diego zu Gast sind, den Worten von Wolfgang Brunk im Vortragsraum der neuen Erdbebenwarte. Brunk ist erster Vorsitzender des Vereins Wiechert’sche Erdbebenwarte Göttingen e.V., der die Station betreibt. Die Mitglieder des 2005 gegründeten Vereins haben seinerzeit verhindert, dass das gesamte Areal mit seinen historischen Gebäuden und den voll funktionsfähigen Messinstrumenten abgerissen und verschrottet wird. Seitdem stellen die engagierten Vereinsmitglieder nicht nur den wissenschaftlichen Betrieb der Station sicher, sondern begeistern vor allem junge Menschen für die Technik. Ausschließlich durch Spendengelder finanziert, machen sie Physik anschaulich und vor allem erlebbar.

Ring of fire

Faszinierend und beunruhigend zugleich: Erdbeben setzen ungeheure Energie frei. Foto: Christoph Mischke

In perfektem Englisch stellt Brunk den jungen Ingenieurstudenten die Geschichte und Funktion der historischen Stätte vor. Für den modernen Breitbandseismographen der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, der seit 2005 hier ebenfalls Erderschütterungen registriert, hat Brunk nicht viel übrig: „Das ist doch nur ein kleiner weißer Kasten in der Ecke.“ In Filmen und anschaulichen Experimenten verdeutlicht er die Entstehung und Wirkung von Erdbeben. Eine Weltkarte zeigt die Gebiete, die am meisten von einem Beben gefährdet sind. Sie alle liegen am sogenannten „ring of fire“, dem größten zusammenhängenden Vulkangürtel der Erde. Auch San Diego liegt auf diesem Gürtel, was die jungen Menschen, die schließlich dort studieren, aber nicht weiter beunruhigt. Subduktion ist das Schlüsselwort, das Untereinanderschieben der Erdplatten. „Manchmal hakt es dann“, sagt Brunk, „und die im Lauf von Jahrzehnten unter hoher Spannung heruntergedrückte Platte federt in Sekunden in ihre Ausgangslage zurück.“ Die Erde bebt.

Jetzt wird es laut

Ein solches Beben setzt ungeheure Energie frei, weiß der Experte. „Das Sumatra-Andaman-Beben vom 26. Dezember 2004 hat in 30 Minuten so viel Energie erzeugt wie alle weltweiten Energielieferanten in den vergangenen 100 Jahren.“ Die Studenten staunen und ich auch, denn das ist ebenso faszinierend wie beängstigend. Brunk setzt noch einen drauf und demonstriert den Klang eines Erdbebens. „Es wird jetzt laut“, sagt er. „Sehr laut, denn sonst könnte ich euch ja nicht beeindrucken“, schiebt er mit einem Lächeln nach. Die Mienen der Studenten schwanken zwischen gespannter Erwartung und ängstlicher Neugier. Brunk spielt die Tonaufnahmen eines Bebens an, in 200-facher Komprimierung. Ein dumpfes Grollen erfüllt den gesamten Raum, die Quelle ist nicht zu lokalisieren, aber wir können die Erschütterungen fast spüren. Einige halten sich die Ohren zu, denn der 400-Watt-Subwoofer unter dem Tisch leistet ganze Arbeit. Auch wenn das Dröhnen nur aus der Konserve kommt, es ist schon ziemlich unheimlich.

Stahlkugel statt Dynamit

Beeindruckend: Die vier Tonnen schwere Mintrop-Kugel. Foto: Christoph Mischke

Es hat aufgehört zu regnen und der Sturm macht auch gerade eine Pause. Deshalb zieht Wolfgang Brunk den eigentlich dritten Teil der Führung vor und die Gruppe unternimmt einen kurzen Waldspaziergang zum Fallturm der Mintrop-Kugel. Vier Tonnen schwer, liegt die Stahlkugel vor uns auf dem Waldboden, genauer gesagt steckt sie, nur zur Hälfte sichtbar, im Waldboden. Gespannt und amüsiert verfolgen wir die Geschichten, die Brunk über Ludger Mintrop, einen Schüler von Emil Wiechert zu berichten weiß. Von dessen ersten Versuchen im Göttinger Wald seismische Wellen anfangs mit Dynamit und später mit der Stahlkugel zu erzeugen und von seinem späteren unternehmerischen Reichtum, den ihm seine patentierte Erschütterungsmessung bei der weltweiten Suche nach Erdöllagerstätten einbrachte. Die Spannung steigt nebenbei ins Unermessliche, denn schließlich warten wir alle darauf, was in den nächsten Minuten passieren wird.

I’m so excited

Endlich ist es soweit. Langsam bewegt sich die Kugel, von einer elektrischen Seilwinde gezogen, nach oben. Die Blicke der Studis kleben an ihr, wie Fliegen am Sonnentau. Handys werden gezückt. Oben angekommen, verharrt der Stahlkoloss einige Sekunden an der Fallturmspitze. Brunk lässt die Studenten den Countdown zählen. Three…two…one…

Dann zieht er kräftig am Auslöseseil und die Kugel stürzt aus knapp 15 Metern Höhe zu Boden. Eineinhalb Sekunden später schlägt sie mit einem dumpfen Rumms auf dem merklich erschütterten Waldboden auf. Feuchte Erde spritzt über den Rand des Kraters und die jungen Menschen applaudieren. „Can you do this once more“, rufen sie im Chor nach einer Wiederholung des Spektakels. Erica möchte unbedingt auch einmal die Kugel auslösen. Brunk tut ihr den Gefallen und lässt die tonnenschwere Last erneut hochfahren. „I’m so excited“, ruft Erica lachend und zieht kräftig am Seil. Ein erneuter Moment des Fallens, ein erneuter Einschlag. Nun haben alle ihr persönliches Handyvideo im Kasten.

Nicht springen

Gemeinsam gehen wir ins durch die hölzerne Doppeltür ins Alte Erdbebenhaus, um die Ergebnisse der Fallversuche zu überprüfen. „Ferne Kunde bringt Dir der schwankende Fels – Deute die Zeichen“, steht über der hölzernen Eingangstür, Wiecherts prosaische Beschreibung seiner Arbeit. Drinnen versehen seit über 110 Jahren die von dem Göttinger Forscher entwickelten Seismographen ihren Dienst. Brunk erklärt den angehenden Ingenieuren die Wirkungsweise der drei historischen Instrumente, die alle eins gemeinsam haben. Sowohl der Astatische Horizontalseismograph, das 17-Tonnen-Pendel, als auch der Vertikalseismograph nutzen die Trägheit der Masse als Funktionsprinzip.

Die hohe Empfindlichkeit der Messeinrichtungen zeigt Brunk mit einer kleinen Turnübung und mit dem Anticken des Pendels mit einer Kugelschreiberspitze. Die Ausschläge sind auf den Monitoren deutlich sichtbar. Schon vorab hatte Brunk die jungen Leute darauf hingewiesen, dass ein kollektives Springen in dem Raum ein „Erdbeben“ in Fukushima-Stärke auslösen und die Geräte zerstören würde. Obwohl die Ausschläge der Seismographen inzwischen mittels moderner Lasertechnik aufgezeichnet werden, sind die alten Aufzeichnungsverfahren weiterhin in Betrieb. Spitze Schreibnadeln ritzen die erfassten Bewegungen mit 2000-facher mechanischer Übersetzung in berußtes Papier, das zur Konservierung früher mit Schelllack getränkt wurde.

Alles schwarz

Schwarz: Mit einem Petroleumbrenner werden die Papierbahnen berußt. Foto: Christoph Mischke

Während sich die Gruppe am Ende der faszinierenden Führung bei Brunk mit Applaus bedankt, darf ich noch zuschauen, wo und wie die Papierbahnen berußt werden. „Unser Berußungsraum ist leider ziemlich eng“, sagt er, „da kann ich mit einer so großen Gruppe leider nicht hineingehen.“ Ich freue mich über das Privileg und versuche, nichts in der kleinen Kammer zu berühren, denn nicht nur das Papier ist rußig, auch alle anderen Gegenstände sowie die Wände sind schwarz.

Mit einem Streichholz entzündet Brunk einen Petroleumbrenner, der sogleich auf voller Breite dichten schwarzen Qualm und eben auch massenhaft Ruß erzeugt. Nachdem er den Brenner etwas heruntergeregelt hat, schiebt er ihn unter die zwischen zwei Walzen gespannte Endlospapierbahn. Sehr gleichmäßig muss er die Kurbel drehen, damit eine ebenmäßige Rußschicht entsteht und vor allem das Papier nicht in Flammen aufgeht. Ich habe höchsten Respekt vor denen, die das in früheren Zeiten machen mussten, denn trotz der laut brummenden Absaugvorrichtung habe ich recht schnell genug vom „Petroleumduft“ und mich zieht es wieder hinaus an die frische Waldluft.

Empfehlenswerte Führung

Kennt sich bestens aus: Wolfgang Brunk am 17-Tonnen-Pendel. Foto: Christoph Mischke

Wer auf den Geschmack gekommen ist und noch mehr über Wiechert, Mintrop und die Erdbebenmessung erfahren möchte, sollte für sich oder seine Gruppe eine absolut empfehlenswerte Führung vereinbaren. Das geht sehr einfach über die Homepage des Vereins oder über Göttingen Tourismus im Alten Rathaus. An jedem ersten Sonntag im Monat veranstaltet der Verein um 14 Uhr eine öffentliche Führung inklusive Fall der Mintrop-Kugel. Die Führungen dauern rund zweieinhalb Stunden und sind kostenfrei. Um die Arbeit der Station fortführen zu können sind Spenden an den Verein jedoch höchst willkommen.

Die mobile Version verlassen