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Der kleine Bronze-Mann

Ich mag den kleinen Mann aus Bronze. Immer wenn ich bis dato an der Nordseite des Alten Rathauses vorbeiging, war ich versucht, das Denkmal von Georg Christoph Lichtenberg zu berühren – zumindest die Kugel in seiner linken Hand, mit den Plus- und Minus-Symbolen. Manchmal habe ich es auch getan, und heimlich darüber gestreichelt, vielleicht bringt es ja Glück. In Zeiten des Corona-Virus verbietet sich so etwas natürlich, aber die, im Gegensatz zum restlichen Denkmal, ziemlich blanke Kugel zeigt mir, dass ich mit meiner Hoffnung nicht alleine war. Göttingen: Auf den Spuren von Lichtenberg.

Steht seit 1992 mitten in der City: Das Lichtenberg-Denkmal am Alten Rathaus. Foto: Christoph Mischke
Farbenfroh: Brautpaare hinterlassen gerne Blumen am Denkmal. Foto: Christoph Mischke

Was könnte uns diese Figur wohl alles erzählen? Immerhin steht sie seit 1992 mitten in der City und somit im sonst prallen Leben. Wie viele Brautpaare haben Lichtenberg einen Blumengruß dagelassen, nachdem sie in der Dorntze im Alten Rathaus geheiratet haben? In welchen Winkeln der Welt hängen jetzt die Bilder der Göttingen-Besucher, die ihn für ein Foto in ihre Mitte genommen haben? Wie viele Feiern und Demonstrationen auf dem Marktplatz hat er über sich ergehen lassen müssen und wie vielen angeschickerten Spätheimkehrern diente er wohl als Stütze?

Lichtenberg leuchtet

Stifter bleibt gelassen: Verleger Tete Böttger am besudelten Lichtenberg. Foto: Christoph Mischke

Während der Neugestaltung der Marktplatz-Pflasterung wurde er mittels Kran und Lkw monatelang ins Exil verbannt und im März 2019 fiel er gar einem Farbanschlag zum Opfer. Unbekannte Hohlköpfe beschmierten, vermutlich im Zusammenhang mit dem Weltfrauentag, die Denkmäler berühmter männlicher Geistesgrößen mit rosa und lila Farbe. So auch die Statue am Rathaus. Der Göttinger Verleger Tete Böttger nahm es gelassen und sagte seinerzeit zu mir: „Lichtenberg leuchtet, während woanders völlige Dunkelheit herrscht.“ Immerhin hatte Böttger selbst das Bronze-Standbild des kleinwüchsigen Göttinger Physikers initiiert und aus eingeschmolzenen Enver Hodscha-, Lenin- und Stalin-Büsten fertigen lassen. Es wurde im Juli 1992 zum 250. Geburtstag Lichtenbergs enthüllt. Am 30. April 2015 schenkte Böttger die Dauerleihgabe offiziell der Stadt.

Promis am Denkmal

Wissenschaftler unter sich: Jean Pütz am Lichtenberg-Denkmal. Foto Christoph Mischke
Zwei kleine Große: „Matula“ umarmt den Naturforscher. Foto: Christoph Mischke
Vor seinem Vortrag: Journalist Franz Alt mit dem Bronze-Mann. Foto: Christoph Mischke

Auch mir hat das Denkmal schon häufig als Fotomotiv gedient und ich konnte sogar den einen oder anderen Prominenten dazu bewegen, sich mit Göttingens berühmtem Gelehrten ablichten zu lassen. Journalist Franz Alt, viele werden ihn noch als Moderator der SWF-Sendung „Report“ kennen, stellte sich bereitwillig zu der Figur. Auch der Kölner Wissenschaftsjournalist Jean Pütz und Schauspieler Claus Theo Gärtner, genau, der „Matula“ aus „Ein Fall für zwei“, ließen sich nicht lange um ein Foto mit Lichtenberg bitten. Gärtner hatte sogar 1966 sein erstes Engagement hier am Deutschen Theater, bevor er sich dem Fernsehpublikum zuwandte. Oh, ich schweife ab.

Auf Schritt und Tritt

Vor der Paulinerkirche: Lichtenberg im Sitzen.
Foto: Christoph Mischke

Obwohl mir der Physiker, Naturforscher, Mathematiker und Schriftsteller, der 36 Jahre in Göttingen gelebt und gearbeitet hat, quasi auf Schritt und Tritt begegnet, weiß ich doch recht wenig über diesen Mann. Vor der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek in der Pauliner Straße steht, beziehungsweise sitzt, ein weiteres Lichtenberg-Denkmal auf einer Sandsteinbank – gegenüber liegt ein aufgeschlagenes Buch als Symbol für Lichtenbergs literarisches Schaffen, das ihn zum Ahnherrn des seit 1997 ausgelobten Satirepreises „Göttinger Elch“ werden lässt. Gleich um die Ecke, in der Gotmarstraße 1, steht das Lichtenberghaus. Hier, im heutigen Domizil des Göttinger Kunstvereins, hat er nicht nur geforscht und gelehrt, sondern auch von 1775 bis zu seinem Tod am 24. Februar 1799 mit seiner Familie gelebt.

Das Lichtenberghaus: Wohnstatt und Arbeitsplatz des Naturforschers. Foto: Christoph Mischke
Magnetisch: Lichtenberg für den Kühlschrank.
Foto: Christoph Mischke

In der Tourist-Information sind einige Artikel wie beispielsweise Notizzettel, Kühlschrank-Magnet und ein Lichtenberg-Medaillon erhältlich. Bei Orfeo-Schmuck gibt es handgefertigte Lichtenberg-Broschen und – Anstecknadeln in Silber und Gold und die Weinhandlung Bremer hat einen Lichtenberg-Burgunder im Angebot. Ach ja, eine Straße und eine Gesamtschule, die seinen Namen tragen, haben wir auch und das Wissenschaftskolleg der Universität ist ebenfalls nach ihm benannt.

Experimente im „Physicalischen Cabinet“

Historische Zeichnung von Georg Christoph Lichtenberg. Foto: privat
Original: Lichtenbergs Blättchenelektroskop von 1787.
Foto: Uni Göttingen
Sichtbare Elektrizität: Konservierte Lichtenbergfigur.
Foto: Stefan Kimmel

Der kleinwüchsige, große Gelehrte, der als Folge einer Rachitis unter einer Verkrümmung seiner Wirbelsäule litt, gilt als Begründer der Experimentalphysik in Deutschland. Außerdem muss der Mann extrem fleißig und wissensdurstig gewesen sein. Wie wäre sonst zu erklären, dass er an unserer Georgia Augusta von 1763 an Mathematik, Physik, Baukunst, Ästhetik, englische Sprache und Literatur, Staatengeschichte Europas, Diplomatie und Philosophie studierte. Im Jahr 1770 wurde er zum Professor für Mathematik und Experimentalphysik in Göttingen ernannt. Mit einer Vielzahl von Geräten, viele von ihnen sind heute noch im „Physicalischen Cabinet“ der Uni zu sehen, führte Lichtenberg vor allem Experimente zur Elektrizität durch.

Blitzableiter verboten

Verbot: Lichtenberg durfte auf St. Johannis keinen Blitzableiter installieren. Foto: Christoph Mischke

„Trotz oder genau deswegen soll Lichtenberg angeblich eine große Angst vor Gewittern gehabt haben“, berichtet mir der Göttinger Gästeführer Jörg Scharmach. „Nachdem Lichtenberg von der Erfindung des Blitzableiters durch Benjamin Franklin erfahren hatte, wollte er auch einen solchen installieren – auf dem Turm der Johanniskirche.“ Dazu ist es aber, wie Jörg erklärt, nie gekommen, weil der Pfarrer ihm das Vorhaben verboten hat. „Lichtenberg hat ihn dann auf seinem Gartenhaus montiert.“ Einige Jahre zuvor,1777, so steht es geschrieben, entdeckte er bei seinen Experimenten die ersten geometrischen Gebilde bei elektrischen Entladungen, die heute als „Lichtenbergsche Figuren“ bekannt sind, und die Bipolarität (+/-) der elektrischen Ladung. Ich verstehe, das erklärt die Zeichen auf der Kugel seines Denkmals am Markt. Mit dem Nachweis von Grundlagen der Elektrizität schuf Lichtenberg auch die Basis der modernen xerographischen Druckverfahren. Wow, ab sofort gilt der Mann bei mir als Erfinder der Kopiergeräte.

Lichtenberg, die Volksfigur

Hannah turnt auf dem Lichtenberg-Denkmal.
Foto: Christoph Mischke

Beim Begriff Kopieren fallen mir Schriftstücke ein, und Georg Christoph Lichtenberg ist auch ein begnadeter Schriftsteller gewesen. Mit meinem gesunden Halbwissen würde ich mich zu dieser Thematik allerdings auf ganz dünnes Eis begeben. Deshalb habe ich mich mit einem Experten unterhalten, mit niemand Geringerem als mit Tete Böttger. Ihr erinnert euch: der Verleger, dem wir das Denkmal am Markt verdanken. „Lichtenberg ist eine Volksfigur“, sagt Böttger, „niemand wird so oft zitiert wie er.“ Beinahe wäre dieser „universelle Geist“ völlig in der Versenkung verschwunden, wenn nicht seine sogenannten „Sudelbücher“ posthum veröffentlicht worden wären. Ein wahres Schatzkästlein mit über 8000 tagebuchartigen Notizen mit amüsanten Gedanken, politischen Beobachtungen, ironischen Selbstbeobachtungen und Betrachtungen zu zahlreichen Wissensgebieten und naturwissenschaftliche Feststellungen. Denn, schrieb Lichtenberg einst, das Denken ist die Schwärze auf dem weißen Papier.

Janssen konnte sich totlachen

Schlaganfall: Janssens Lichtenberg-Zeichnung während der er starb. Repro: Böttger

Denken muss sich allerdings wohl nicht zwingend in Schwarz äußern. Zeichner und Grafiker Horst Janssen, der sich, laut Böttger, über Lichtenbergs Texte totlachen konnte, aquarellierte zahlreiche seiner Werke mit Lichtenberg-Fragmenten. Tete Böttger erkennt zwischen den beiden sogar eine Blutsverwandtschaft, was die Tinte angeht: „Beider Federstrich bringt das Kleine zu großem Ansehen.“ Janssen starb übrigens während er Lichtenberg zeichnete an einem Schlaganfall. Der zugehörige Aphorismus lautete: „Man will wissen, dass noch niemand im ganzen Lande vor Freude gestorben ist. Ausnahme ich – mehrmals.“ Ironie des Schicksals.

Gernhardt dreht Prinzip um

Böse Entdeckung für Amerika: Gernhardt trifft auf Lichtenberg. Repro: Böttger

Auch der Frankfurter Schriftsteller, Dichter und Zeichner Robert Gernhardt hat sich, nach Böttgers Worten, an Lichtenberg delektiert. Auch er ein Seelenverwandter Lichtenbergs. 99 Aphorismen des kleinen großen Aufklärers hat er in seinen „Sudelblättern“ illustriert. Hintersinnig und nach dem umgekehrten Prinzip, das Lichtenberg anwandte, als er die Kupferstiche von Hogarth beschrieb: „Was der Künstler da gezeichnet hat, müsste nun auch so gesagt werden, wie er es vielleicht würde gesagt haben, wenn er die Feder so hätte führen können, wie er den Grabstichel geführt hat.“ Einige Originale der Hogarth’schen Stiche befinden sich übrigens im Roten Salon der Historischen Sternwarte und so schließt sich ein weiterer Kreis.

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