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Von Briten, „Baukunst“ und Bier

Über Jahrhunderte war das Gebiet am Exer in Wolfenbüttel Platz für das Militär. Die Nazis bauten dort eine Kaserne, die Briten nutzten sie als Garnison nach dem Krieg und heute wird dort u.a. an Ostfalia – Hochschule für angewandte Wissenschaften studiert. Ich traf mich mit Paul Close, der dort als Soldat seinen Dienst tat.

Wie schade, dass Häuser keine Geschichten erzählen können. Was wäre das für ein Geschenk, wenn man sich vor die Mauern eines Gebäudes still kauern und in der Abenddämmerung erfahren könnte, was in ihnen alles passiert ist. Trauer, Hoffnung, Wut. Leben und Sterben. Glück und Leid. Wir bewohnen einige Jahre, manchmal Jahrzehnte einen Raum und danach sind die Spuren, die uns unverwechselbar erscheinen so blitzschnell getilgt, dass man es kaum glaubt.

Gelegentlich haben wir Glück und wir können die Geschichten doch noch hören. Von Menschen, die dort gelebt haben und irgendwann weiter ziehen mussten. Deshalb treffe ich mich mit Paul. Er kann eine, seine Geschichte erzählen, die ihn mit einem Baukomplex verbindet, der am Rande Wolfenbüttels im Nordosten liegt, am Lechlumer Holz und keine, sagen wir, schöne Tradition hat. Dort, wo die alte Kaserne »Am Exer« liegt, haben schon die Herzöge in alten Zeiten marschieren geübt. Und das Exerzieren lag meist vor dem sinnlosen Sterben. Nicht immer, Gott sei Dank. Denn Paul lebte und arbeitete in der Mitte der 70er Jahre hier, als es zu keinem Krieg kam und die »16. Queen’s Royal Lancers« im »Kalten Krieg« zwischen Ost und West dafür sorgten, dass die nahe gelegene Grenze zum anderen Deutschland bewacht wurde.

Paul Close dort, wo er vor 40 Jahren als junger Soldat in die Wolfenbütteler Kaserne einrückte.

Von der Peripherie ins Herz der Stadt

Paul Close ist Brite – kein »Au« klingt da in der Mitte, sondern ein »O«. Wir haben uns mit dem Fahrrad verabredet. Er kommt von Braunschweig, ich von Groß Denkte. Ich habe die besseren Karten, rein kilometermäßig. Obwohl sich um Wolfenbüttel herum eiszeitliche Endmoränen ziehen, die eine Gangschaltung schon als sinnvoll erscheinen lassen. Für die Fahrt muss man auf jeden Fall gut gefrühstückt haben. Wer in die Pedale tritt, würdigt dafür in der Langsamkeit der Fortbewegung überhaupt erst einmal wieder, wie schön das alles liegt.

Die Felder mit dem reifen Korn, das sich wie ein gelber Teppich über die Hügel ausbreitet. Die Sonnenblumen an den Feldern, die mit der Sonne am Himmel um die Wette leuchten. Und dann sind da die kilometerlangen Apfelbaumalleen, die im Herbst reichlich Früchte tragen werden. Um die Lessingstadt herum kann man wunderbaren radeln – über die Landstraßen und schließlich auch direkt durch die Felder. Schilder tun auch dem Ortsfremden kund, wohin einen der Weg führen wird. Von Atzum aus, einem pittoresken Dorf mit kleinen Gärten und einer trutzigen Dorfkirche, geht es noch einen Anstieg hoch und dann wieder bergab in die Stadt. Aber auch Paul hat eine sehenswerte Tour. Denn wer entspannt zwischen Wolfenbüttel und Braunschweig radeln möchte, kann dies durch die verschlungenen Wege der Okerauen tun und sich dabei herrlich entspannen.

Gelernt ist gelernt

Paul sitzt schon auf sein Fahrrad gelehnt und verschnauft. Wo man früher dickes Kartenmaterial brauchte, resümiert er gerade noch seine Fahrstrecke auf der Smartphone-App. – mit genauer Kilometerangabe und Durchschnittsgeschwindigkeit. Eigentlich könnte man die Strecke so viel öfter mit dem Fahrrad fahren, lacht er. Als er als Corporal jeden Morgen die Laufschuhe schnürte, um den obligatorischen Morgenlauf zu absolvieren, da konnte man an diese Art der statistischen Erhebung noch nicht einmal denken.

»Das einzige Ziel war es, möglichst als erster anzukommen«, erzählt er, während wir das Fahrrad anschließen. Nicht der sportliche Ehrgeiz trieb den jungen Berufssoldaten damals an, sondern vor allem die Aussicht auf heißes Wasser. Den Letzten beißen die Hunde, heißt es. Und im Soldatenalltag übertragen bedeutet das: Die Letzten duschen kalt. Also war er Erster und noch heute läuft Paul, der in Braunschweig eine englische Sprachschule betreibt und sich in seiner Freizeit als 1. Vorsitzender der Loge »Heinrich der Löwe« engagiert noch locker einen Halbmarathon. Gelernt ist gelernt.

Der Adler und die Jahreszahl erinnern an die dunkle Vergangenheit der Kaserne.

Die Geschichte der Kaserne

Welche Geschichte diese Kaserne hat, das war dem Corporal damals gar nicht bewusst. Dass hier über Jahrhunderte ein Platz zum Exerzieren war ebenfalls nicht. Und was für eine Ironie der Geschichte – ein Zeichen, dass sich die Dinge immer auch zum Besseren wenden können – dass an diesem Ort heute unter anderem ausgerechnet so ein friedliches Fach wie Sozialwesen studiert werden kann, dass dort gemeinnützige Organisationen tätig sind, wo früher todbringende Waffen das traurige Geschäft waren.

Wir gehen noch einmal zurück an den Anfang, an den Eingang der Kaserne. Paul war zunächst als Berufssoldat in Zypern stationiert gewesen, dann wurde er nach Schottland versetzt um schließlich in ein Städtchen zu kommen, von dessen Existenz er damals noch nicht einmal etwas ahnte. »Das einzige, was ich wusste. Mit 600 Soldaten war die Garnison für deutsche Verhältnisse klein und damit sehr beliebt« erzählt er, während wir uns das Portal der Kaserne anschauen. Auch ohne erläuternde Tafel sieht man schnell, aus welcher Zeit dieser heroisch wirkende Adler stammt.

Das Erbe der Nazi-Baukunst

Bauhistorische Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus sind immer wieder in der Diskussion. Das fast schon berühmt berüchtigte Seebad Prora an der Ostsee zum Beispiel oder erst kürzlich das olympische Dorf aus dem Jahr 1936, dem Jahr der Olympiade, als die Welt zu Gast in Deutschland war und das Regime versuchte, ein friedliches Bild der Diktatur zu zeichen. In diesem Jahr wurde auch die Wolfenbütteler Kaserne »Am Exer« gebaut. Architektur im Dritten Reich, das waren zum einen Monumentalbauwerke, die die Massen narkotisieren und einschüchtern sollten und die sich mit ihren Säulen, vor allem aber auch mit dem umfassenden Herrschaftsanspruch des griechischen und römischen Reiches, an der Antike orientierten. Die großen Bauten sollten wie Tempel sein.

Der Nationalsozialismus war nicht nur Ideologie, sondern vor allem auch Religionsersatz. Andererseits, wie im gerade viel diskutieren Olympischen Dorf in Berlin oder in Wolfenbüttel eben auch in fast zurückhaltender Schlichtheit gebaut – in Symmetrie und Einfachheit den Gemeinschaftsgedanken repräsentierend, der in der NS-Ideologie ohnehin konstituierend war und in einem militärischen Komplex sowieso. Der Einzelne ist nichts, die Gemeinschaft ist alles, war das Motto, das sich in solchen Bauwerken ausdrückt. Wenn man vom Tor aus, durch das Paul 1975 als Corporal das erste Mal einrückte, auf dem Fluchtpunkt des Objektes schaut, zeichnet sich, durch ein Tor gesehen, hinten das Casino ab. In der Mitte eine riesige Grasfläche, auf der die britischen Offiziere, die nach dem Zweiten Weltkrieg dort einzogen, Kricket spielten. Die Stimmung sei in den 70er Jahren, erinnert sich Paul, richtig gelöst gewesen zu solchen Anlässen. Die Queen’s Royal Lancers waren ein traditionsreiches Kavalerie-Regiment und so gehörte es zum Statussymbol, dass auch die Pferde die Reise auf das europäische Festland mit antraten.

Die alte Wache.

Eine eigene Welt

Aus dem 36. FLAK Regiment und dem 1. Infanterie Regiment der deutschen Wehrmacht wurden die »Northampton Barracks« der »Britischen Rheinarmee«. Rechts und links des U-förmig angelegten Komplexes liegen die alten Mannschaftsunterkünfte, die architektonisch an die Klein- und Werksiedlungen der Nazi-Zeit erinnern, die den Arbeiter und Soldaten enger an die »Betriebsgemeinschaft« binden sollte. Die ganze Kaserne ist durch alten Baumbestand gegliedert und nimmt damit die Stimmung des nahe gelegenen Lechlumer Holzes auf. Auch dies war ein Markenzeichen der NS-Architektur – der völkisch motivierte Rückgriff auf Naturelemente –, das man auf einem Rundgang durch die Kaserne heute studieren kann. Ich schaue mir das Ganze an diesem Tag mit Pauls Augen an. »Das alles«, erzählt er, während wir an den alten Wachhäuschen vorbei »rechts schwenken«, »war eine Welt für sich. Es gab hier alles. Eigenes Fernsehen, Radio, Kaufhaus, Kneipe, Kino, Schule, Kindergarten.«

Deutsch-britische Begegnungen

Das schließlich führte auch dazu, dass viele der rund 1.000 in Wolfenbüttel stationierten britischen Soldaten kaum Deutsch konnten. »Das erste, was ich gelernt habe, das war: Ein Bier bitte.«, lacht Paul, während er mir die alte Tankstelle zeigt und den Exerzierplatz, auf dem er sich allmorgendlich präsentieren durfte. Paul reparierte in der Kaserne Kleinkaliberwaffen und nach Dienstschluss zog es ihn in die gemütliche Kleinstadt mit ihren Kneipen und auch netten jungen Frauen, wie er mit einem Augenzwinkern einräumt.

Das Verhältnis zwischen Deutschen und britischen Soldaten sei im Ganzen eigentlich gut gewesen, resümiert er: »Wir hatten zwar in der Siedlung auch eigene Kneipen, waren aber auch gern in der Stadt unterwegs. Und andererseits gab es in der Kaserne einen Kulturclub, in dem einmal in der Woche gemeinsam gesungen und getanzt wurde: Deutsche und Engländer. Und auch das Kino sei für viele Deutscher damals interessant gewesen, erinnert er sich: »Hier konnte man englische Filme sehen, die es in deutschen Kinos nicht gab.«

Nicht mehr viel erinner daran, dass in diesem Areal über eine lange Zeit vor allem Englisch gesprochen wurde.

Alte Erinnerungen

Schön sei auch einmal im Jahr eine Reitveranstaltung gewesen, die die Stadt mit der Garnison gemeinsam, veranstaltet habe. »Die Offiziere hatten ja ihre Pferde mitgenommen und das war dann immer eine prächtige Veranstaltung«, so Paul. Während wir durch Geschichte und Gegenwart schlendern, uns die alten Mannschaftsunterkünfte anschauen, das Kasino, das sich aus der Rasenfläche wie ein herrschaftliches Anwesen mit einigen Treppenstufen heraushebt, bleibt Paul manches Mal stehen und meint: „Da kommen wirklich viele Erinnerungen hoch“.

Nach seiner Zeit beim Militär sei er viele Jahre gar nicht mehr hergekommen. Die Liebe hatte ihn in der Region gefesselt. Paul kaufte sich aus seinem Soldatenleben in die Freiheit, wollte dann erstmal nichts mehr vom Militär wissen und arbeitete danach zunächst bei MAN, wo er auch endlich richtig Deutsch lernte. Es ging nach Braunschweig, wo er Stammkunde im Eintrachtstadion wurde und später eine Sprachschule eröffnete. Heute kommt er immer noch gern nach Wolfenbüttel zurück. Inzwischen habe er die Geschichte der Stadt für sich entdeckt und er liebt es, durch die Innenstadt zu bummeln.

Die alte englische Kneipe

So wie er seien viele Kameraden in der Region geblieben. Wir schwingen uns wieder aufs Fahrrad und er erzählt, während wir uns die Elbinger Straße herunter rollen lassen, von den Familien, die in der dortigen Siedlung gelebt hatten. In Mehrfamilien- aber auch Einfamilenhäusern. Während wir an der katholischen Sankt Ansgar Kirche stehen, sucht er die Häuserreihen ab, wo die Grundschule gestanden haben mag. An der Danziger Straße liegt noch eine Kneipe von damals.

Paul und ich schließen unsere Räder ab und er erzählt: »Hier haben sich die Männer mit Familie getroffen. Wir Jungegesellen sind in der Kaserne geblieben, wenn es nicht in die Stadt ging, und im Danziger Eck war der Treffpunkt der verheirateten Soldaten.« Der letzte britische Wirt hat längst vor einigen Jahren aufgegeben, aber die Kneipe ist immer noch Treffpunkt für die Siedlung. Wir setzen uns an die Theke, im Hintergrund erinnern Dartscheiben daran, dass hier einmal Briten zuhause waren.

Aus der Kaserne wurde eine Bildungsstätte

Natürlich hätten die keine elektronischen Zielscheiben akzeptiert, zwinkert er mir zu, während wir mit einem kleine Wolters anstoßen. Nicht nur was Darts anlangt, sind Briten echte Puristen. Ein älterer Gast sitzt mit am Tresen und die beiden tauschen rasch Namen aus vergangenen Zeiten aus. Was macht dieser? Und jener? Wenn man im Danziger Eck nachfragt, bekommt man noch etwas von der Garnisonsgeschichte der britschen Reheinarmee in Wolfenbüttel mit. Bis zur Wende 1989, als die Grenzen wenige Kilometer von Wolfenbüttel fielen, war die Kaserne in britische Hand. Dann wurde sie übergeben. Für viele war das sicher ein schwerer Moment. Denn aus den Besatzern von 1945 waren in den Jahrzehnten Partner und Freunde geworden – ja sogar deutsche Mitbürger.

Paul ist längst Braunschweiger geworden – natürlich mit einer Liebe zur Insel und britischem Pass. Trotz Brexit hält er auf die gute Verbindung zwischen den Ländern. Wenn er mit seinen Englischschülern wieder einmal eine Exkursion über den Kanal plant oder für einen örtlichen Reiseveranstalter in Braunschweig Reisen nach London oder Schottland führt, blüht er auf. Aber schließlich kommt er doch immer wieder gern dorthin zurück, wo es ihn vor 40 Jahren hin verschlagen hatte.

Kneipenbummel in der Altstadt

Wir lassen unsere Exkursion zünftig mit einem Kneipenbummel ausklingen. Auch hier überlagern sich Erinnerungen mit der Gegenwart. Der Sommertag hält noch immer sein Versprechen auf einen lauen Abend. Hier in der Augusta, habe er so manchen Abend verbracht, bevor er – der letzte Bus war längst gefahren – wieder zu Fuß die Salzdahlumer Straße hoch marschieren musste. An einer nicht mehr existierenden Kneipe – der Herzogschänke – geht es zum Schlossplatz. Die Schänke dort erkennt er von damals nicht wieder. Aber das Wolters schmeckt immer noch gut. Und schließlich gibt es den Farewell-Cup, den Scheidebecher in der braubar auf der Okerstraße.

Mit dem Wolfenbütteler Bier lernt Paul nun also auch noch die kulinarische Zukunft der Lessingstadt kennen. Ein Nachmittag mit Geschichten geht zu Ende. Und ich werde ihn gewiss noch einmal wiederholen. Die Radtour um die Hügel der Lessingstadt. Der Spaziergang über die heutige Ostfalia Fachhochschule, die aus dem Ort des Kriegs einen Ort des Lernens gemacht hat und schließlich der Abschluss im Biergarten. Diese Facette meiner Heimatstadt ist der Erkundung wert. Denn so viele Geschichten, wie Wolfenbüttel hat. Sie alle sind es wert erzählt und gehört zu werden.

In der dritten Reihe von oben, der zweite von Links. Das ist Paul Close als aktiver Soldat in Wolfenbüttel (Archivbild von Paul Close).

Fotos: Andreas Molau (ausgenommen das Gruppenbild)

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