Hann. Münden, 32 Grad.
Ich trage nicht viel mehr als ein T-Shirt und eine kurze Hose. Vor mir aber steht ein Mann im langen seidenbestickten Gewand, mit Kniestrümpfen und Pluderhose um die Beine und einem Rüschentuch um den Hals. Sein Kopf ziert eine schneeweiße Allongeperücke. „Ist Ihnen nicht furchtbar heiß?“, frage ich.
„Wissen Sie, es ist an solchen Tagen natürlich sehr schweißtreibend, aber ich mag mich nicht beschweren. Mir gefällt diese Beschwerkultur der modernen Leute nicht. Über alles wird geklagt, zum Beispiel über die hohen Beiträge ihrer – wie nennen sie diesen neumodischen Firlefanz? – Krankenversicherung. Zu meiner Zeit kostete ein ärztlicher Hausbesuch durch meine Person einen Taler. Das war wahrer Wucher, ein Taler war beinahe das Monatsgehalt eines einfachen Lakaien.“
Der Mann, dem jetzt ein erster Schweißtropfen die Stirn hinunterläuft, heißt Doktor Eisenbart. Er möchte mir seine Stadt zeigen. Die Stadt, in der er seine letzten Tage als Wanderarzt verbrachte. Er war nicht unumstritten, ganz und gar nicht. Viele hielten ihn für einen Scharlatan und Quacksalber. Dennoch machte er sich durchaus einen Namen und ist längst zur Symbolfigur von Hann. Münden geworden, denn er war anders als sein Ruf!
An den blauen Windbrettern seines Sterbehauses in der Langen Straße sind Insignien wie Polypenhaken (ja, es muss wirklich so grausam gewesen sein wie es klingt) und Starnadel (in der Behandlung von Grauem Star war er brillant) zu sehen. Und die Betäubung seiner Patienten?
„Nun“, erzählt Doktor Eisenbart. „Manchmal hilft Alkohol. Aber einige Menschen vertragen so viel davon, das ist mir auf Dauer zu teuer.“ Er kramt in seiner Arzttasche. „Das hier halte ich für eine adäquate Alternative.“ In der Hand hält er einen schweren Holzhammer.
Es ist ein großer Spaß, mit meinem Stadtführer (insgesamt gibt es in Hann. Münden sehr viele Stadtführer, darunter mehrere Eisenbart-Darsteller) durch die alten Gassen zu laufen – weil er seine Rolle zu keiner Zeit vergisst. Wenn er auf die Uhr schaut, stellt er fest, dass wir noch „ein gerüttelt Maß an Zeit haben“. Als wir an meiner Unterkunft, dem hübschen Fachwerkhotel Aegidienhof, vorbeischlendern, sagt er: „Oh, da hat er sich das rechte Lager gesucht.“ Und dann und wann stöhnt er über die „Motorkutschen aus Blech“, die heutzutage durch seine alten Mündener Gassen fahren.
Doktor Eisenbart nimmt mich mit zu seinem Grabstein an der Aegidienkirche, zeigt mir sein berühmtes Glockenspiel, das täglich um 12, 15 und 17 Uhr am Rathaus ertönt und entführt mich so für ein paar Stunden in seine Welt, in das frühe 18. Jahrhundert.
Aber ganz zum Schluss, da kann ich ihm dann auch noch einen Trend aus meinem Zeitalter näherbringen, und ich muss sagen: Doch, Doktor Eisenbart hat sichtlich Spaß am ersten Selfie seines Lebens.
P.S.: Wer auch seinen Spaß bei einem Selfie mit Doktor Eisenbart haben möchte, kann die Fotowand vor dem Rathaus dafür nutzen: Dort zieht Doktor Eisenbart euch den Zahn!
P.P.S.: Wer noch mehr Doktor Eisenbart erleben möchte, sollte sich folgendes Video zum Glockenspiel mit Figurenlauf und Melodie des Spottliedes auf Doktor Eisenbart im Rathausgiebel in Hann. Münden anschauen: www.youtube.com/watch?v=Q91NGBH4faw
Im Video erfährt man zudem auch, wer der Ritter der Rotwurst ist und was er in Hann. Münden macht!
Über den Autor: Christoph Karrasch ist Reiseblogger bei VonUnterwegs.com und Mitglied im Reiseblogger Kollektiv, das für aboutcities die 17 Städte besuchte.